Manchmal kauft sich ein Freund einen Hund, also braucht man selbst auch einen. Oder eine Freundin baut sich ein Hochbeet. Und schon pflanzt man selbst Gemüse. Manchmal aber hält es ein Freund einfach für eine gute Idee, nonstop mit dem Rad über Stock und Stein von Ljubljana durch Slowenien und Kroatien nach Triest zu fahren. Und ehe man sich's versieht, ist man beim Seven Serpents Quickbite angemeldet, einem, gelinde gesagt, waghalsigen Radrennen über 540 Kilometer und 10.600 Höhenmeter. Zur Veranschaulichung: Das ist zwar nicht ganz die Strecke zum Mond, aber immerhin der Mount Everest und zweimal der Semmering obendrauf.

Die Strecke des Seven Serpents Quickbite
DER STANDARD / Robin Kohrs

An einem sonnigen Samstagmittag Anfang Mai finden sich also rund 150 Wagemutige am Rand der slowenischen Hauptstadt für ein Abenteuer ein. Ein Abenteuer, nicht nur ein Rennen. Denn während es bei einem Radmarathon Labestationen gibt, Rettungsteams an der Strecke, Wegschilder, gibt es beim Seven Serpents nichts als einen GPS-Track, den es nachzufahren gilt. Und anders als bei Etappenrennen bleibt die Uhr am Abend nicht stehen, sondern läuft die Nacht durch. Jede Stunde Pause ist daher eine verlorene Stunde. Wo ich schlafe, wo ich esse, was ich mache, wenn mir mein Rad auf irgendeinem Berggipfel auseinanderbricht, ist mein Problem. Und die Probleme kommen, garantiert. Welche, das hat mich die Zeit gelehrt.

Seven Serpents Quickbite
Wegweiser gibt es keine, nur einen GPS-Track. Und der führt auch mal durchs Wasser.
Foto: Michael Windisch

Lektion 1: Pizza passt in die Trikottasche

Wenn ein Langstreckenrennen Samstagmittag beginnt, ist das zwar gut für die Anreise. Schlecht ist jedoch, dass nur wenige Stunden später praktisch alle Supermärkte und Greißler auf der Strecke zusperren. Bis Montag früh. Das korreliert ungünstig mit dem erwarteten Kalorienverbrauch pro Tag, der in beträchtliche Höhen steigt. Wo immer die Radlerinnen und Radler daher etwas zu essen finden, setzen Hamsterkäufe ein.

Am ersten Tag erreiche ich kurz vor Einbruch der Dämmerung das slowenische Postojna, das vor allem für seine Höhlen bekannt ist. Bei den Teilnehmern hingegen erlangt es an diesem Tag große Berühmtheit für eine Bäckerei am Hauptplatz, die Pizzaschnitten verkauft. Kurz vor Ladenschluss sind sie bereits kalt und vertrocknet, dafür lassen sie sich umso besser zusammenfalten, in Zeitungspapier und Plastiksackerl einwickeln, und in der Trikottasche am Rücken verstauen. Das ist zwar nicht sonderlich elegant, erfüllt aber seinen Zweck. Kulinarische Finesse nimmt während des Rennens keinen großen Stellenwert in der Bedürfnispyramide ein.

Das Höhenprofil des Seven Serpents Quickbite
DER STANDARD / Robin Kohrs

Lektion 2: Bären existieren

Knapp eine Woche vor dem Start des Rennens huschte eine Nachricht durch die europäischen Medien: "Spaziergänger südlich von Ljubljana von Bär attackiert." Im Starterfeld kursierte die Meldung schnell mit gehörigem Galgenhumor. Als ich mich im Grenzgebiet zwischen Slowenien und Kroatien einen langen Anstieg hinauf quäle, hält ein hundert Meter vor mir fahrender Italiener abrupt an. Ich schließe zu ihm auf, gehe von einer Panne aus. Doch er raunt mir zu, ich solle stehen bleiben. Gerade sei ein Bär über den Weg gelaufen. Der Beobachtung, dass es wohl günstiger wäre, ihm etwas Zeit zu lassen, sich wieder zurückzuziehen, stimme ich zu. Später teilen Teilnehmerinnen und Teilnehmer Videos und Fotos von ihren Bärensichtungen. Gegessen wurde aber niemand. Offiziell zumindest.

Lektion 3: Nacht ist nicht gleich Nacht

Seven Serpents Quickbite
Das letzte Licht des Tages. Was danach kommt, ist dunkler als erwartet.
Foto: Lukas Achleitner

Die letzten Sonnenstrahlen des Tages auf einem kahlen Berggipfel zu erleben und innerhalb von Minuten den fließenden Übergang der Farben vom grellen Orange bis zum dunkelsten Violett beobachten zu dürfen, ist unbezahlbar. Danach in aller Einsamkeit und bei einstelligen Temperaturen ein, zwei Stunden im Stockdunkeln über eine holprige Forststraße durch den Wald ins Tal abzufahren, ist es nicht. Zwar hatte ich Nachtfahrten geübt. Es macht aber einen Unterschied, im Wiener Wald auf bekannten Wegen und mit dem Wissen zu fahren, wenig später wieder in der heimeligen Wohnung sein zu können, oder mitten im Bärenland, ohne klare Perspektive, was einen im Tal erwartet: Gibt es noch irgendwo etwas zu essen? Oder Wasser? Finde ich einen geeigneten Platz für meinen Schlafsack? Nicht alle diese Fragen finden immer eine positive Antwort.

Lektion 4: Friedhöfe spenden Leben

Wichtiger noch als Pizza ist Wasser. Spätestens als das Rennen am zweiten Tag die karstige, schattenarme kroatische Küste erreicht, steigen auch die Temperaturen unter praller Sonne in Höhen, die für jemanden, der gerade dem österreichischen April entstiegen ist, einen Kulturschock darstellen. Auf offene Läden zu vertrauen – siehe Lektion 1 – kann fatal enden. Hilfreicher ist es, an der Strecke nach Friedhöfen Ausschau zu halten, wo es immer Brunnen gibt. Einmal steige ich in großer Not sogar über eine brusthohe Mauer, um trotz verschlossener Tore zum Quell des Lebens zu gelangen.

Als nicht weniger hilfreich erweisen sich übrigens Kirchen. In meiner zweiten Nacht campiere ich vor einem hell beleuchteten Gotteshaus auf der Insel Krk. Alleine, weil sich zu diesem Zeitpunkt 20 Kilometer vor und hinter mir kein Rennteilnehmer mehr befindet. An der Mauer des Kirchturms rolle ich gegen 22 Uhr meinen Schlafsack aus und fühle mich inmitten des ansonsten stockfinsteren Ortes halbwegs sicher. Zwei Katzen beäugen mich, aber sie sind keine Bären, und sie machen mir meine Pizza nicht streitig. Dass ab zwei Uhr früh die Glocken im Viertelstundentakt läuten, nehme ich in Kauf. Um vier geht es für mich sowieso weiter.

Lektion 5: Fahren ist besser als schieben

Seven Serpents Quickbite
Der Begriff "Gravel" ist dehnbar, die Nerven der Teilnehmenden gezwungenermaßen auch.
Foto: Michael Windisch

Gravel heißt, banal übersetzt, "Schotter". Der Sprache gelingt aber nicht einmal eine zarte Annäherung an die Realität. Von feinstem Kies bis zur Geröllhalde: Alles ist Gravel. Beim Seven Serpents tendenziell eher letzteres. Und begegnet das Geröll in steilen Anstiegen, sind nicht nur die Grenzen des eigenen Körpers, sondern auch die der Physik irgendwann ausgereizt. Dann heißt es Schieben, oft über Kilometer: Der Tod des Radfahreregos, und der Tod der Durchschnittsgeschwindigkeit. Selbst das hat aber sein Gutes: Trotz hunderter Kilometer im Sattel, geschundener Beine, vom Rütteln der Fahrt tauber Hände und wundem Sitzfleisch freue ich mich danach aufs Weiterfahren. Einfach weiter.

Lektion 6: Fähren zählen (nicht)

Eine besondere Spezialität des Seven Serpents sind die Inseln Krk und Cres. Deren Namen muten wie lautmalerische Wortschöpfungen an, inspiriert vom Geräusch von Fahrradreifen, die über das scharfkantige Geröll rumpeln, das den Inseln ihren einmaligen Charme verleiht. Nach Krk führt zwar eine gigantomanische Brücke, die noch den Zeiten von Langzeitdiktator Tito entstammt. Danach – von Krk nach Cres und weiter nach Istrien – kommen aber die Fähren ins Spiel. Sie prägen den Charakter des Rennens besonders, da sie die an Unbekannten ohnehin nicht arme Gleichung um eine weitere Zufallskomponente bereichern.

Seven Serpents Quickbite
Powernap auf hoher See.
Foto: Lukas Achleitner

Zweimal warte ich eine Stunde auf die Überfahrt, weil sich der Fährplan nicht nach meinem Tempo richtet. Ich nutze die Zeit zum Umziehen, bade mich in Sonnencreme, und reihe mich mit dutzenden deutschen und österreichischen Autos zur Überfahrt ein. Die auf See zurückgelegten Kilometer zählen nicht. Die Zeit aber läuft weiter. Das Rennen ist unfair, wie das echte Leben.

Lektion 7: Zeit ist relativ

Meine letzte Etappe führt mich einmal quer durch Istrien, durch den Učka-Nationalpark, mit seinem rauen Hochplateau, auf dem mich zum zweiten Mal im Rennen der Regen erwischt. Nahe der kroatisch-slowenischen Grenze halten mich auf einem schmalen, ausnahmsweise asphaltierten, Sträßchen grimmig dreinblickende Grenzbeamte an. Ein vollbepackter Radfahrer mit Augenringen und einer Patina aus Staub und Schweiß scheint ihnen verdächtig. Sie brauchen einige Minuten. Dann darf ich weiter.

Seven Serpents Quickbite
Jeder Stein ein Peitschenhieb: der Autor, nur mehr ein paar Stunden vor Triest.
Foto: Lukas Achleitner

Und erreiche am Ende nach 73 Stunden und 49 Minuten das Ziel auf der Piazza Unità d'Italia in Triest. Drei Tage, in denen Moment und Ewigkeit zu einem einzigen Punkt zusammengeschmolzen sind. Geschlafen habe ich in drei Nächten etwa zwölf Stunden, weitere zwölf Stunden gingen für Essenkaufen, Toilettenpausen, Schlafplatzsuchen oder Warten auf die Fähre drauf. Habe ich ans Aufgeben gedacht? Oft. Aber man muss nur öfter als Weiterfahren denken, dann geht's. Und warum macht man das? Ich wusste es vorher nicht genau, ich weiß es auch jetzt nicht. Und trotzdem hat es Spaß gemacht. Irgendwie. (Michael Windisch, 26.5.2023)