"We will rave on Putin’s grave", steht auf T-Shirts der Gäste, die ausgelassen unter den bunten Bändern tanzen, die von der Decke hängen. Mehr als 2.500 Besucher und Besucherinnen zählte das Strichka-Festival in Kiew am Wochenende – obwohl Russland seit 15 Monaten Krieg gegen die Ukraine führt.

In der Kiewer Bar Grails gibt es keinen White Russian mehr auf der Getränkekarte, sondern eine "Russische Asche".
Daniela Prugger

"Ich bin hierhergekommen, weil ich eine Pause vom Krieg brauche", erklärt die 33-jährige Hannah. Sie sitzt mit ihrem Freund im Außenbereich des Festivalareals im Szeneviertel Podil. Neben ihr bläst eine junge Frau Seifenblasen in die Luft. "Beim Tanzen kann ich meine Energie rauslassen. Es ist ein sehr guter Zeitpunkt für einen Rave, weil es derzeit so viele Raketenangriffe gibt", sagt sie. So wie Hannah fühlen sich viele auf dem Festival.

Zweiter Frühling

Nach einem langen Winter mit ständigen Stromausfällen ist in Kiew der zweite Frühling im Krieg angebrochen. Die Vorstellung davon, was "normal" ist, mussten die Bewohner seit dem 24. Februar 2022 monatlich, wöchentlich, wenn nicht täglich neu kalkulieren. Während an den Straßenrändern wieder die Kirschbäume und Tulpen blühen, erinnern Panzersperren und verhüllte Monumente daran, wie weit die russischen Truppen vor mehr als einem Jahr vorgerückt sind. Damals war ein Großteil der Bewohner aus der Stadt geflüchtet. Obwohl die umkämpften Gebiete mittlerweile weit von Kiew entfernt sind, ist die Lage in der Hauptstadt angespannt.

Seit Ende April erlebt Kiew laut dem Militär die intensivsten Angriffe seit langem. Beinahe jede Nacht werden die Bewohner von Luftalarm oder von den Explosionen der Luftabwehr geweckt. Auf die Frage, welches Sicherheitskonzept es für den Fall von russischen Luftangriffen auf das Strichka gibt, antwortet Sascha Schulz: "Freestyle."

"Habt ihr noch Tickets?"

Der 31-Jährige mit Raver-Brille und selbstgedrehter Zigarette in der Hand ist einer der Organisatoren des Festivals. Zum Glück spiele heuer neben der militärischen Lage auch das Wetter mit, scherzt er und versucht zu erklären, wie die Leute in Kiew mittlerweile ticken. "Ein Beispiel: Vor Kurzem gab es wieder einen Angriff mit Shahed-Drohnen auf Kiew. Ich habe selbst vom Fenster aus zugeschaut, wie sie abgeschossen wurden. Zur gleichen Zeit haben unsere Mitarbeiter hier alles vorbereitet. Und online haben wir Nachrichten von Leuten bekommen, die uns geschrieben haben: 'Yo, habt ihr noch Tickets übrig?'"

Zum ersten Mal seit Kriegsbeginn treten in Kiew auch wieder vermehrt internationale Musiker auf. Ismael Zouaoui ist einer von ihnen. Der 31-jährige Schweizer lebt und arbeitet als Musiker in Berlin. "Eigentlich fühle ich mich sicher hier. Man merkt auch kaum etwas vom Krieg, außer dass es viel Militär gibt und man nicht hinfliegen kann, sondern einen Zug nehmen muss", sagt Zouaoui.

Zeichen der Solidarität

Er wolle den Menschen in Kiew einen schönen Moment bereiten und dabei helfen, von der schwierigen Lage abzulenken. Ukrainische Musiker wie Anton Umerenko sehen darin ein wichtiges Zeichen der Solidarität. Der 34-Jährige stammt aus Saporischschja und tritt auf dem Festival auf. Seit neun Monaten lebt er in Kiew, seine Heimatstadt befindet sich noch immer an der Front. "Natürlich wird der Krieg von Leuten, die aus dem Ausland anreisen, anders wahrgenommen", so Umerenko. "Für uns, die wir hier leben, ist das alles normal: dass es an einem Tag Angriffe gibt und am nächsten ein Festival stattfindet."

Darauf vergessen, dass in anderen Landesteilen gekämpft wird, können aber auch die Organisatoren nicht: So wie bei den meisten Veranstaltungen in Kiew geht ein Teil der Einnahmen an humanitäre Organisationen oder an die Armee.

Trotz Krieges weiterleben

Abseits vom Festival sind auch Bars und Restaurants an den Wochenenden wieder voll mit jungen Leuten. "Warum sollte es anders sein", sagt Jura Jandemirow mit einem Schulterzucken. Der 33-Jährige steht hinter dem Tresen der Bar Grails und zapft ein Feierabendbier nach dem anderen. "Die Menschen versuchen, sich von den schlechten Nachrichten abzulenken und trotz allem weiterzuleben."

Wie stark sich das Leben hier verändert hat, lässt sich auch im Kleinen beobachten, auf der Getränkekarte etwa. Die Preise wurden aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Lage um 20 bis 25 Prozent erhöht. Und der Cocktail White Russian heißt in dieser Bar mittlerweile "Russische Asche".

"Ich bin noch immer nicht so weit, dass ich freiwillig in den Krieg ziehen würde. Aber wenn ich muss, werde ich es tun", sagt Jandemirow. Viele seiner Gäste kämpfen schon an der Front, sind Veteranen, haben Angehörige verloren oder sind aus den umkämpften und besetzten Landesteilen nach Kiew geflohen. "Gerade in der Barszene müssen wir uns darauf vorbereiten, dass viele unserer Gäste unter posttraumatischen Belastungsstörungen leiden und dass manche von ihnen, wenn sie trinken, emotional oder sogar aggressiv werden", so Jandemirow.

Flüchtlinge und Soldaten in Hostels

Während die Gastronomie in Kiew wieder aufatmen kann, ist die Stimmung in anderen Branchen wenig hoffnungsvoll. Manche Unterkünfte, die vor einiger Zeit noch Touristen beherbergten, werden nun gänzlich von Binnenflüchtlingen oder Soldaten bewohnt, erzählt Anastasia Mischtschanyn, die zwei Hostels in Kiew und in Lwiw leitet.

Für jene, die von der Front nach Kiew zurückkommen und sich dadurch irritiert fühlen, dass das Leben zumindest an der Oberfläche wieder normal zu sein scheint, hat Mischtschanyn Verständnis. "Nur – wenn wir die Wirtschaft nicht am Laufen halten, bricht alles zusammen", sagt sie. Auch die Moral. Denn selbst hier werden Menschen wie sie von der Realität des Krieges eingeholt: Ihr eigener Bruder wird bald selbst an der Front kämpfen.

Davon, dass die Stadt in Zukunft wieder Menschen aus dem Ausland anlockt und sich das Gastgewerbe erholen wird, ist sie überzeugt. "Vor dem Krieg war die größte Attraktion Tschernobyl. Immerhin hat dieser Katastrophentourismus dafür gesorgt, dass die Touristen begonnen haben, sich für das Land und die Leute zu interessieren", so Mischtschanyn. "Nach Kriegsende wird es wohl ähnlich ablaufen." (Daniela Prugger aus Kiew, 24.5.2023)