Präsident Erdoğan hat in seinem Wahlkampf auf Themen gesetzt, die auch in Westeuropa zu Polarisierung führen, sagt der Türkei-Experte und Religionswissenschafter Hüseyin Çiçek in seinem Gastkommentar.
Kemal Kılıçdaroğlu hat am 14. Mai 2023 mehr Stimmen für sich verbucht als jeder andere CHP-Kandidat seit den 1950er-Jahren. Trotzdem konnte sein "Bündnis der Nation" (Millet İttifakı) die Wahl nicht im ersten Durchgang für sich entscheiden. Angesichts der langjährigen Herrschaft der AKP war dies auch eine sehr schwere Aufgabe. Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seine AKP haben in den letzten zwei Jahrzehnten eine so starke politische Präsenz und einen solchen Einfluss aufgebaut, dass viele Wahlberechtigte in der Türkei für sie gestimmt haben. Die AKP regiert seit mehr als 22 Jahren in der Türkei, und ihre politischen Ideen haben tiefgreifende Auswirkungen auf das Land. Nichtsdestoweniger spekuliert das Land im Moment, wer die Stichwahl am 28. Mai gewinnen wird, auch wenn Erdoğan besser abgeschnitten hat als von vielen erwartet.
Nicht unerwähnt bleiben sollten die Vorwürfe bezüglich der Wahlmanipulation. Die Aufarbeitung beziehungsweise Falsifikation oder Verifikation wird Monate oder länger dauern und im Moment keine Änderung am Ergebnis herbeiführen. Für die Kandidaten, die am Sonntag zur Stichwahl antreten, bedeutet dies, dass sie keine Zeit haben, ihre Wunden zu lecken und sich ohne Pause weiterhin den Wählerinnen und Wählern widmen müssen.
Rechts dominiert
Erdoğans Herausforderer Kılıçdaroğlu hat auch unmittelbar nach der Wahl seine Strategie modifiziert und will diesmal mit Identitätspolitik die Stichwahl für sich entscheiden. In den letzten Tagen war darüber zu hören und zu lesen, dass sich der CHP-Chef politisch mehr nach rechts bewegt, um die notwendigen Stimmen für den 28. Mai zu sichern. Diese Wahrnehmung der türkischen politischen Szene überrascht, weil das türkische Parlament – unabhängig von der neuen Sitzverteilung – immer noch von Rechtsparteien dominiert wird. Das Bündnis der Nation setzt sich aus dem Spektrum der zersplitterten Rechtsparteien zusammen.
Die AKP und ihre Bündnispartner haben die politische Landschaft, in der sie agieren, offensichtlich besser verstanden und genutzt als ihre Herausforderer. Sie konzentrierten ihre Wahlkampfstrategie auf Themen, die den Wählerinnen und Wählern wichtiger waren als Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit. Erdoğans Betonung von Identität und Religiosität fand nicht nur in der Türkei, sondern auch unter den im Ausland lebenden Türkinnen und Türken Anklang. Dies deutet jedoch nicht auf ein demokratisches Defizit hin. Vielmehr sind die Themen, die Erdoğan für seinen Wahlkampf ausgewählt hat, auch in Westeuropa seit Jahren zentrale Punkte der politischen Agenda und führen zu Polarisierung.
Doppelt betroffen
Ähnlich wie Erdoğan behaupten viele westeuropäische Politikerinnen und Politiker, dass die Grundlagen der Gesellschaft erodieren. Sie weisen insbesondere auf die vermeintliche Marginalisierung traditioneller Familien durch die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Ehen hin. Sie beschwören auch den Niedergang religiöser Werte, der ihrer Meinung nach zu einem Identitätsverlust führt. Sie sprechen von leeren oder geschlossenen religiösen Einrichtungen. Eine kritische Haltung gegenüber westlicher Geopolitik oder eine antiwestliche Haltung war auch im türkischen Wahlkampf präsent, ähnlich wie bei einigen europäischen Parteien.
Es ist zu erwarten, dass Erdoğan, wie auch erfolgreiche europäische Parteien, seine Strategie der Identitätspolitik beibehalten wird. Die Auslandstürken sind daher doppelt von Identitätspolitiken betroffen und reagieren auf Entwicklungen, die sowohl in der Türkei als auch in ihrem europäischen Umfeld stattfinden. Dies unterstreicht die parallelen Einflüsse, die die Wählerinnen und Wähler sowohl in der Türkei als auch in Europa prägen.
Die politischen Dynamiken in der Türkei und in Europa sind zunehmend miteinander verflochten, insbesondere in Bezug auf die Identitätspolitik und die Betonung traditioneller Werte. Die Auslandstürken sind ein lebendiges Beispiel für diese Verflechtung. Die bevorstehende Stichwahl wird zweifellos weitere Einblicke in diese Dynamiken liefern und könnte einen Wendepunkt in der türkischen Politik darstellen, je nachdem, ob Erdoğan seine Amtszeit fortsetzen kann oder ob Kılıçdaroğlu einen Überraschungssieg erringt. Unabhängig vom Ergebnis ist es jedoch klar, dass die Themen Identität und Tradition weiterhin eine zentrale Rolle in der politischen Landschaft sowohl in der Türkei als auch in Europa spielen werden. (Hüseyin Çiçek, 23.5.2023)