In sozialen Medien herrscht seit Anfang der Woche große Aufregung. In der an die Ukraine grenzenden russischen Region Belgorod haben sich Kämpfer von russischen Freiwilligenkorps breitgemacht. Sie sollen via Ukraine über die ukrainisch-russische Grenze hinweg in die Region eingedrungen sein und den Grenzübergang Graiworon nahe dem russischen Dorf Kozinka besetzt haben – Videos auf Telegram und Twitter zeigen das zerstörte Grenzhäuschen. Das Dorf Gora-Podol sei zudem eingenommen worden.

Die russische Region Belgorod an der Grenze zur Ukraine ist nach offiziellen Angaben Ziel von Drohnenangriffen geworden. Zu den Angriffen bekannte sich die Legion "Freiheit Russlands" - Russen, die auf Seiten der Ukraine kämpfen.
AFP

Laut dem Belgoroder Gouverneur Wjatscheslaw Gladkow war am Montag ein "Spionage- und Sabotagetrupp" in das Gebiet eingedrungen. Nachdem er anfangs noch zu kalmieren und die Situation kleinzureden versuchte, rief der Gouverneur später Terroralarm aus, was strenge Personenkontrollen in der Region sowie die Schließung von Fabriken, die Güter wie Sprengstoff, radioaktive oder chemische und biologische Gefahrenstoffe produzieren, zur Folge hatte. Zu dem Angriff bekannten sich zwei aus russischen Staatsbürgern bestehende Gruppierungen, die im Krieg in der Ukraine auf der Seite Kiews kämpfen: die "Legion Freiheit Russlands", die sich schon im März mit Sabotageaktionen an der Grenze internationale Bekanntheit verschaffte, und das "Russische Freiwilligenkorps". Kiew dementierte jegliche Beteiligung an der Aktion.

Am frühen Dienstagnachmittag hieß es dann vom russischen Verteidigungsministerium, dass die letzten Angreifer zurück auf ukrainisches Territorium gedrängt worden seien. 70 Kämpfer seien getötet worden, heißt es dem unbestätigten Briefing des Kreml zufolge. "Financial Times"-Journalist Christopher Miller berichtete am Dienstagnachmittag nach einem Gespräch mit dem Anführer der Operation, dieser sei "guter Stimmung gewesen" und habe gemeint, der Angriff dauere an.

Straßenschild Belgorod Kiew
Aus der an die Ukraine grenzenden russischen Region Belgorod fielen zu Kriegsbeginn russische Soldaten ein. Nun sollen Anti-Putin-Russen den umgekehrten Weg von der Ukraine aus in Richtung Belgorod gegangen sein.
AP/Vadim Ghirda

Frage: Wie ist die aktuelle Lage?

Antwort: "Wir haben den Sonnenaufgang auf befreitem Gebiet begrüßt und dringen weiter vor", schrieb die "Legion Freiheit Russlands" am Dienstagmorgen auf Telegram. Es dürfte sich nur um wenige Kämpfer, im zweistelligen Bereich, handeln. Die Kämpfe in mehreren an die Ukraine grenzenden Ortschaften des westrussischen Gebiets Belgorod dürften aber auch laut Angaben der Behörden zumindest am Dienstag angehalten haben. "Die Säuberung des Territoriums durch das Verteidigungsministerium und andere Sicherheitsstrukturen wird fortgesetzt", teilte Gouverneur Gladkow am Dienstagmorgen mit. Auch Drohnen sollen abgeschossen worden sein. Zuvor kursierten im Internet Videos, die mutmaßlich Drohnen zeigen, die das Grenzschutzgebäude im Visier hatten. Erst am Dienstag gegen 14.30 Uhr Ortszeit kamen erste Meldungen seitens von Moskau, wonach die Angreifer zurückgedrängt worden seien.

Zwar gebe es bisherigen Erkenntnissen zufolge unter den Zivilisten keine Todesopfer, doch für die Rückkehr der Einwohner sei es zu früh, erklärte Gladkow am Dienstagvormittag. Tatsächlich sind die meisten Menschen geflohen, es soll aber Verletzte geben. Zu mindestens zwei Verletzten könne das Sicherheitspersonal jedoch nicht vordringen. Ob es Tote unter dem Militärpersonal gab, blieb zunächst offen. Russland sprach von 70 Todesopfern aufseiten der Angreifer.

Frage: Was ist das Ziel der Kämpfer, was ihre Motivation?

Antwort: Ziel sei es, eine entmilitarisierte Zone entlang der Grenze zu schaffen, um den ständigen Beschuss ukrainischen Territoriums und das damit verbundene Leid für die Zivilbevölkerung zu verhindern, hieß es von den bewaffneten Gruppen. Zudem sprechen sie stets von "Befreiung". Auch Andrej Jusow, der Sprecher des ukrainischen Militärgeheimdiensts, verwendete ein ähnliches Wording und sprach von einer Operation russischer Bürger, um "die Gebiete der Region Belgorod vom sogenannten Putin-Regime zu befreien und den Feind zurückzudrängen". Auch selbst sprechen die einst ins Ausland geflohenen Kämpfer von einer "Rückkehr". Russland werde bald "frei sein". Offenbar etabliert sich dieser Tage zudem ein weißes Kreuz als Markierung der Kämpfer. Es war beispielsweise auf Panzern in der Nähe des Grenzübergangs zu sehen.

Zu den Kämpfern selbst lässt sich sagen, dass es sich zumindest bei einigen führenden Köpfen der Legion "Freiheit für Russland" um bekennende Neonazis handeln dürfte. So hat die Rechercheplattform Bellingcat auf den Videos etwa Alexej Levkin von der Wotan-Jugend identifiziert. Die Neonazi-Organisation hat etwa den rechtsextremen Terroristen Anders Behring Breivik als Helden bezeichnet. Aufs Konto Levkins selbst gehen Vorwürfe wegen Schändungen jüdischer und muslimischer Friedhöfe, aber auch Mordvorwürfe. Ein weiterer von Bellingcat identifizierter Kämpfer stellte sich als Alexander Skatschkow heraus, den der ukrainische Geheimdienst 2020 verhaftete, weil er Übersetzungen des Manifestos des Christchurch-Attentäters verkaufte. 

Frage: Wie reagiert Russland?

Antwort: Laut Kreml-Sprecher Dmitri Peskow wurde Russlands Präsident Wladimir Putin am Montag vom Grenzschutz und dem russischen Inlandsgeheimdienst FSB über "das Eindringen von Saboteuren" unterrichtet. Der Kreml sprach davon, dass es sich bei den Angreifern um eine spezielle Sabotage- und Aufklärungsgruppe der ukrainischen Armee handele. Tatsächlich sind dies jedoch beide Gruppen zumindest offiziell nicht. Während die Legion "Freiheit für Russland" ein Teil des internationalen Freiwilligenkorps innerhalb der ukrainischen Streitkräfte darstellt und definitiv keine Spezialeinheit der regulären Armee ist, bestätigte die Armee auch nie, dass das russische Freiwilligenkorps offizieller Teil der ukrainischen Fremdenlegion sei. Laut Peskow sei die Aktion lediglich ein Versuch, von der Situation in Bachmut abzulenken.

Jedenfalls aber bedinge der Angriff die "Spezialoperation" in der Ukraine fortzuführen, sagte Peskow am Dienstagmittag. Es bestätige, dass "ukrainische Kämpfer ihre Tätigkeit gegen unser Land fortsetzen". Die Kämpfe in Belgorod würden Anstrengungen von Russland erfordern, um künftig ein erneutes Eindringen zu verhindern, so die Argumentation des Kremls zur Fortsetzung des Kriegs.

Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin, seit Monaten der schärfste Kritiker der russischen Armee, nutzte die Situation wieder einmal für einen Rundumschlag gegen den russischen Sicherheitsapparat. So gebe es "einen Mangel an Governance und eine Verschwendung von öffentlichen Geldern." Anstatt sich um die "Sicherheit des Staates zu kümmern", würden Personen Geld abkassieren und "herumalbern", schrieb sein Pressedienst auf Telegram. Niemand sei wirklich bereit, zu regieren und das Land zu verteidigen. "Ich habe das in den Oblasten Belgorod und Kursk schon oft gesagt. Leider ist das noch immer so", schrieb Prigoschin.

Frage: Welchen Nutzen könnte die Ukraine daraus ziehen?

Antwort: Die Ukraine beobachte das Geschehen interessiert, "ist aber nicht direkt daran beteiligt. Wie bekannt ist, werden Panzer in jedem russischen Waffengeschäft verkauft", schrieb der Berater des Präsidentenbüros, Mychajlo Podoljak, auf Twitter. Er spielte damit offensichtlich auf ein russisches Narrativ aus dem Jahr 2014 an – viele sagen, er wollte es indirekt gar spiegeln. Als damals russische Soldaten auf die Krim oder in den Osten der Ukraine vorstießen, argumentierte der Kreml, dass dies nichts bedeute und russische Uniformen schließlich in jedem besseren Waffengeschäft zu erstehen seien. So ist es einerseits natürlich ein großer symbolischer Schlag gegen Russland und den Kreml, wenn den russischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern ein Gefühl der Unsicherheit vermittelt wird – von wem auch immer. Zudem hoffen viele Putin-Gegner, dass der Widerstand gegen das Putin-Regime zu weiteren Aktionen in anderen Landesteilen führt.

Zum anderen geht es um die von vielen Militärexperten erwartete und lang angekündigte ukrainische Gegenoffensive. Zuletzt haben sich dazu Anschläge auf Infrastrukturobjekte in den von Russland besetzten Gebieten der Ukraine, aber auch in den grenznahen Regionen Russlands gehäuft. Damit sollte wohl der Nachschub der russischen Streitkräfte erschwert werden. Da die Stoßrichtung der ukrainischen Gegenoffensive noch unbekannt ist, spekulieren einige Experten sogar über einen Vorstoß auf russisches Gebiet, um dort Kräfte zu binden. Die "Legion Freiheit Russlands" soll - vermutlich noch am Montag - einen russischen Radschützenpanzer vom Typ BTR-82A erbeutet haben. 

Eigentlich haben sämtliche Verbündeten der Ukraine einen solchen Angriff auf russisches Territorium bisher abgelehnt und haben auch immer wieder die Lieferung bestimmter Waffen an diese Bedingung geknüpft. Die Einbindung russischer Kämpfer, die nicht unter dem Kommando Kiews stehen, könnte eine Umgehung dessen darstellen. Womöglich ist aber alles auch nur ein Ablenkungsmanöver für einen Gegenangriff an anderer Stelle. Möglich auch, dass der Angriff mit dem ukrainischen Militär überhaupt nicht abgesprochen war und die Korps tatsächlich auf eigene Faust handeln.

Frage: Gibt es Reaktionen?

Antwort: Speziell im Internet macht sich derzeit sehr viel Häme für Russland breit. Unter #BelgorodPeoplesRepublic wird etwa die Ausrufung einer Republik, ähnlich der russischen Vorgehensweise in Luhansk und Donezk, gefordert. Satirisch heißt es, der Konflikt um Belgorod könne nicht militärisch gelöst werden, weshalb unter der Aufsicht ukrainischer Truppen ein Referendum nach "internationalen Standards" durchgeführt werden solle. Auch von einer "Spezialoperation", um russischsprachige Russen vor Russen, die von Russland aus Russland angreifen zu schützen, ist hämisch die Rede. International hält man sich bisher weitestgehend mit Lageeinschätzungen zurück. Regelmäßig taucht jedoch die Frage auf, woher die Waffen für die Aktion stammen, schließlich sollten von Ukraine-Unterstützern bereitgestellte Waffen ja nicht für Angriffe auf Russland eingesetzt werden. Dies kann bislang nicht eindeutig beantwortet werden. (Fabian Sommavilla, APA, 23.5.2023)

Anmerkung: Rund 15 Minuten nach Veröffentlichung des Artikels meldete Russland, alle Kämpfer aus Belgorod herausgedrängt oder getötet zu haben. Der Artikel wurde um diese Informationen ergänzt sowie später auch um die Dementi der Freiwilligenkorps.