6000 Kinder, die Hilfe in Deutsch bräuchten, gingen leer aus. Den Kindergärten fehlen Sprachförderkräfte.
Heribert Corn

Ganz ohne Spickzettel ging es nicht: In sämtlichen Sprachen, darunter Farsi, Arabisch und Albanisch, hat sich Bilge Sayar (Name von der Redaktion geändert) die Übersetzungen für "Hallo", "Wie geht’s dir?" und "Die Mama kommt gleich" notiert – und einstudiert. Erstaunte Blicke und Kinderlachen waren ihm damit gewiss. "Es ist ein richtiger Eisbrecher, wenn man die Kinder in ihrer Muttersprache anspricht." So würden sie merken, dass ihre Sprache wertvoll ist – etwas, das ihnen sonst kaum vermittelt werde, sagt Sayar, der Sprachförderkraft in Kindergärten war.

Der Zugang, den sich der 40-Jährige so zu den Kleinen verschaffte, verfolgte ein Ziel: den Vierjährigen Deutsch näherzubringen. An zwei Wiener Kindergärten war er in vier Gruppen im Einsatz. Kinder mit Förderbedarf aus der Gruppe herausnehmen wollte er nicht. "Sie sollten nicht das Gefühl haben, dass etwas nicht stimmt mit ihnen." Die Strategie: Er mischte die Gruppen, sang, reimte und benutzte Bildkarten – so hätten die Kinder spielerisch ihren Wortschatz erweitert.

Hohe Fluktuation

In Wien ist Sayar als Sprachförderkraft ein gefragter Mann. Mittlerweile spricht in der Bundeshauptstadt laut Integrationsbericht 2022 die Hälfte aller Kinder zu Hause eine andere Sprache als Deutsch. Für viele ist der erste Berührungspunkt mit ihr daher der Kindergarten. Und um Kinder dort bestmöglich zu fördern, sollten Sprachförderkräfte wie Sayar zum Einsatz kommen. Dann, wenn Elementarpädagoginnen nach der Sprachstandserhebung zwei Jahre vor Schuleintritt einen Förderbedarf feststellen. Die rot-pinke Stadtregierung nahm sich vor, diese Kräfte bis 2025 von 300 auf 500 zu erhöhen. Doch die Aufstockung verläuft schleppend. Mittlerweile sind laut Stadt 359 Kräfte im Einsatz. Aber viele, wie auch Sayar, gehen wieder.

Warum das ein Problem darstellt und für politischen Zündstoff sorgt, zeigt ein kurzer Blick in Wiens Volksschulen. Dort hatte jedes siebte Schulkind 2020/2021 das Label "außerordentlich", was so viel bedeutet wie, dass sich im Schulalltag fast alles um das Erlernen der deutschen Sprache im Rahmen separierter Deutschförderkurse oder -klassen dreht. Da es den Kindern aber an Sprachvorbildern in der Klasse mangelt, sind Bildungsverluste vorprogrammiert, wie zahlreiche Studien aufzeigen. Und betroffen davon waren meist in Österreich Aufgewachsene: 60 Prozent der "außerordentlichen" Schulkinder waren in der Bundeshauptstadt geboren, viele besuchten sogar zwei Jahre den Kindergarten, wie eine Anfrage der Wiener ÖVP an den pinken Bildungsstadtrat Christoph Wiederkehr offenlegte – und diesen unter Druck brachte.

Keine Förderung für viele Kinder

Auf der Suche nach Erklärungen stößt man schnell auf Zahlen, die auf eine unzureichende Förderung im Kindergarten schließen lassen. Rund vierzig Prozent aller Kinder, die Förderbedarf hätten, gehen leer aus. In Summe fast 6000 Kinder in Wien. Ein Missstand, den Wiederkehr seither regelmäßig mit Ankündigungen von Personalaufstockungen versucht zu entkräften.

Der Missstand aber dient der türkisen Opposition als dankbare Steilvorlage, um etwa eine Kindergartenpflicht für Kinder mit Deutschdefiziten ab drei Jahren zu fordern und gegen Rot-Pink zu wettern.

Doch was liegt dem klaffenden Loch bei der Deutschförderung wirklich zugrunde? Für Bilge Sayar ist es das Jonglieren mehrerer Systeme – und die Ungewissheit: Die Zuteilung der Sprachförderkräfte erfolgt jährlich – und hängt eben davon ab, wo gerade besonderer Bedarf besteht. Aber auch so ist der Alltag geprägt von wechselnden Kollegen, Gruppen und letztlich Kindern, mit denen man arbeite. "Man muss sich ständig auf neue Gegebenheiten einlassen", sagt Sayar. Nach einem Jahr verließ er den Kindergarten. Doch eigentlich nur, um später zurückzukommen. Als nicht weniger gefragter Elementarpädagoge.

"Ich sehe darin mehr Möglichkeiten, etwas für den Bildungsweg der Kinder zu machen", sagt Sayar, der nun Elementarpädagogik studiert. Auch das Gehaltsthema wischt er nicht zur Seite: Während eine Sprachförderkraft mit 2600 Euro brutto einsteigt, sind es bei Elementarpädagoginnen gleich 400 Euro mehr. Und die Sprachförderung? Diese sei ohnehin ein fixer Bestandteil der täglichen Arbeit aller Elementarpädagoginnen und Elementarpädagogen, betont Sayar.

Unterstützung für Eltern

Eine tägliche Arbeit, die aber seit geraumer Zeit von Personalnot und zu großen Gruppen gekennzeichnet ist. Auch die Tatsache, dass sich an gewissen Standorten in Wien Kinder mit Förderbedarf stark konzentrieren, ist für Bildungsexpertin Christiane Spiel ein Grund, warum der Kindergarten in sprachlicher Hinsicht nicht genügend Früchte tragen kann. Dabei spiele aber auch die Erstsprache eine große Rolle. "Wenn Kinder in dieser nicht gefestigt sind, fällt es ihnen viel schwerer, Deutsch zu lernen", sagt Spiel im STANDARD-Gespräch. Doch viele Eltern wüssten auch gar nicht, wie sie ihren Nachwuchs bestmöglich unterstützen können, und fragen aus Scham oder Angst nicht nach Rat und Hilfe.

Gerade hier gebe es in anderen Ländern bereits Ansätze: Kindergärten müssten so ausgebaut werden, dass sie Familienberatungsstellen sind, sagt die Bildungsexpertin. So könnten Probleme und Hilfestellungen besprochen werden, und das niederschwellig – da Eltern ihre Kinder ohnehin täglich im Kindergarten abliefern, so Spiel.

Zweites Kindergartenjahr

Eine schnell umsetzbare Lösung sehen viele in einem zweiten verpflichtenden Kindergartenjahr. Die Arbeiterkammer fordert eine solche bereits seit langem. Auch für Bildungsstadtrat Wiederkehr ist es eine der wichtigsten Schrauben bei der Sprachförderung, wie sein Büro auf STANDARD-Nachfrage mitteilt. Dass ausgerechnet die Wiener ÖVP nun eine Kindergartenpflicht für Kinder ab drei Jahren mit schlechten Deutschkenntnissen von Wiederkehr einfordert, sei daher "bestenfalls komisch". Denn letztlich hätte es die Bundes-ÖVP in der Hand, verpflichtende Kindergartenjahre einzuführen, heißt es.

Doch viel Wirkung dürfte ein solches nicht entfalten: Bereits jetzt besuchen 93,5 Prozent aller vierjährigen Kinder in Wien eine elementare Bildungseinrichtung. Wie stark Kinder sprachlich gefördert werden können, wird daher wohl weiter stark von der Personalsituation abhängen.

Und ähnlich wie Bildungsexpertin Spiel betont auch Bilge Sayar die Rolle der Eltern. "Bei der Sprachförderung müssen alle an einem Strang ziehen. Das fängt schon bei den Eltern an, die mehr Unterstützung brauchen", sagt er. Eine Beobachtung sei ihm hier besonders hängen geblieben: Viele Kinder verbringen so viel Zeit vor Bildschirmen, dass sie schon besser Englisch können als Deutsch. (Elisa Tomaselli, 23.5.2023)