Im Gastblog schreibt Sexualberaterin Nicole Siller über die Neuentdeckung der sinnlichen Ebene.

Warum es gut sein kann, den Sex, den wir kennen, zu verlernen? Ist doch alles schon erprobt, geübt und hat funktioniert – oder nicht? Kann es dann auch manchmal ein bisserl vorhersehbar und unspannend sein? Gibt es immer wieder eine Person, die mehr, und eine Person, die weniger von dem will, was da ist? Eben. Da gibt es noch mehr!

Paar liegt im Bett
Offen für Neues zu sein bedeutet auch, die eigenen Bedürfnisse klar auszudrücken.
Foto: Getty Images/iStockphoto

Ich nehme hier auf Postings aus dem Forum unter bisherigen Blogbeiträgen von mir Bezug, die auch meine Erfahrungen mit vielen Klientinnen und Klienten in meiner Praxis widerspiegeln. In meinen Texten ging es dabei um die Wiederentdeckung der Lust am Sex, den problematischen Umgang mit Leistung als falschen Richtwert beim Sex, Fragen rund um den perfekten Orgasmus oder auch darum, wenn Frau keinen Sex mehr will.

Tja, es gibt ja meist beim Sex – übrigens wie beim Essen – oft noch viel anderes zu entdecken, einfach weil es Freude machen kann, immer wieder bewusst zu spüren, einzuladen, zu verwöhnen, sich selbst und einander. Das funktioniert sogar oft auch mit derselben Partnerin oder demselben Partner sehr gut, ist das Leben doch ein laufender lebendiger Prozess, kein Tag wie der andere, so wie unsere Befindlichkeiten, unsere Tempi, unsere Bedürfnisse und unsere Sexualität. Es könnte ja ganz einfach und mit so etwas wie neugierigem Pioniergeist möglich sein, lange lebendige Freude miteinander zu haben. Wie sinnlich und nährend, wenn zwei einander immer wieder und spielerisch wahrnehmen können und erkunden, welche Bedürfnisse gerade wirklich da sind. Wenn uns doch unsere Erfahrungen, Erwartungen, Muster, Glaubenssätze, Prägungen, Gewohnheiten und vieles andere mehr nicht so im Weg stehen würden!

Was alles ist guter Sex?

Ja, ein oftmals immer noch schwieriges Thema in einer Gesellschaft, die einerseits Sexualität, Lust, Geilheit als ewige Tabuthemen empfindet und andererseits immer mehr Sexualität als Leistung, Druck, Konsumgut oder gar Sport mit hohen Erwartungen betrachtet. Manchmal braucht es klare Momente und auch ehrliche Gespräche über echte Bedürfnisse, vielleicht auch Fantasien, über Wünsche. Ein bisschen Humor und Verständnis verbinden, vor allem, wenn zwei (oder mehr) sich auf Entdeckungsreisen in noch unbekannte Bereiche wagen.

Falle Nummer Eins: Den Sex von früher wiederhaben zu wollen, statt zu schauen, was es heute braucht, um sich selbst und einander wieder intensiv und lebendig in der Begegnung und in der Sexualität zu spüren. Wer weiß, vielleicht kommt ja der "beste Sex des Lebens" noch?

Deshalb könnte es hier sehr hilfreich sein, sich selbst und einander mal zu fragen: "Was ist eigentlich alles guter Sex, zurzeit, für mich und für dich?" Spannend finde ich, dass es Paare gibt, die seit vielen Jahren miteinander leben und (dann oft zu wenig!) guten Sex haben, aber diese Frage nie besprochen haben. Da kann es vorkommen, dass eine Seite sagt: "Na einfach nur Geschlechtsverkehr!" Und die andere Seite entgegnet: "Wenn alles passt, alles erledigt ist und ich ganz entspannt sein kann, wenn wir zu zweit lachen konnten, dann komme ich in Flirtlaune!"

Gut fühlen oder gut sein?

Mit gutem Sex meine ich hier, sich selbst im Körper mit allen Sinnen die Freude machen, gut zu spüren. Natürlich auch, erregbar zu sein und die Partnerin oder den Partner gut wahrzunehmen, auf das Gegenüber eingehen zu können und zu wollen. Ich meine weniger, ob man gut performen kann, ob man rasch und zielorientiert zum Orgasmus kommen oder einander dazu bringen kann. Guter Sex bedeutet meist auch nicht, hauptsächlich "gut im Bett" zu sein, also hauptsächlich das zu tun, was der anderen Person gut tut, ohne selbst darauf Lust zu haben oder in echte Erregung zu kommen.

Falle Nummer Zwei: Mitmachen, bei dem was nicht wirklich Freude und Lust macht. So ist es eher unwahrscheinlich, aus dem nicht freudigen Tun, dem Druck und den (oft eigenen!) Erwartungen heraus und in echte Lust hinein zu kommen.

Miteinander reden

Fängt Sex beim Küssen an oder bei Nacktheit? Mit Erregung oder gar erst mit der Penetration? Beginnt unmittelbar nach dem Sex die Vorfreude, die Anbahnung zum nächsten? Beginnt Sexualität mit Verführung – und was alles kann das sein? Es ist manchmal wichtig zu wissen, wie sich der Körper, der Kopf und wir uns als ganzer Mensch fühlen wollen, wenn sich Sexualität anbahnt. Was braucht es, um sich konkreter zu nähern, wenn ihr miteinander in sexuelle Handlungen kommt? Wie leidenschaftlich und vielleicht außergewöhnlich darf die Lust sein? Hier gibt es oft ganz unterschiedliche Sichtweisen und zu oft Sprachlosigkeit, die spielerische Freude und echte Lust sehr schwierig machen kann.

Wenn das Reden schwerfällt

In so einem Fall empfehle ich, sich zwei Mal miteinander zum Sex zu verabreden, an getrennten Tagen. Bei jeweils einem Date erforscht eine Person den Körper des Gegenübers abseits der primären Geschlechtsteile, mit allem, was einfällt, erregend sein kann und der/die Person, deren Körper gerade erforscht wird, reagiert mit Körperbewegungen oder mit mehr oder weniger lustvollen Geräuschen, zeigt, wie auch immer möglich, was erregend ist und was weniger. Es ist sinnvoll, sich vorher Zeichen zu verabreden, die klar machen, ob Mensch mehr oder weniger von dem will, was gerade passiert. Oftmals werden so erogene Zonen oder Berührungsarten entdeckt, die durchaus "neu" sind.

Unterschiede und Konsens 

Immer wieder sind es die "alltäglichen" Herausforderungen, wie andere Herangehensweisen oder Erwartungen, oft Missverständnisse, die nicht geklärt werden, Interpretationen oder auch unterschiedliche Tempi, ungleiche Verteilung und Verantwortung der Alltagsaufgaben und Verpflichtungen, die zwei Menschen in Dissonanz bringen beziehungsweise sich auf die Lust wie eine Bremse legen.

Für so manchen Menschen ist es wichtig, bevor entspannte Zweisamkeit entstehen kann, die Küche geputzt zu haben oder laufen gewesen zu sein, die Zeitung in Ruhe gelesen zu haben, geduscht zu haben, etc. um den Kopf frei zu bekommen. Für Eltern ist es oft essenziell wichtig, zu wissen, dass sie beim Sex wirklich ungestörte Zeit haben, die Kinder sicher gut schlafen oder die Türe wirklich geschlossen ist. Manchmal braucht es unsexy Rahmenbedingungen, damit es sexy werden kann.

Nähe genießen

Manchmal können Nähe und die Lust auf mehr auch ganz einfach sein. Etwa wenn es möglich ist, sich ein paar Minuten auf ein liebevolles Einander-Zuwenden einzulassen, so ganz analog. Wenn die Sinne freudig mit im Spiel sind, ist die Lust oft gar nicht weit. Wie wäre es, einander mal wieder bewusst und in Ruhe anzusehen, wirklich in die Augen zu schauen, einander zu berühren, zu umarmen, zu riechen? Wie wäre es, einander mal wirklich wieder bewusst wahrzunehmen, vielleicht etwas Persönliches und Positives zu sagen?

Auch echte Umarmungen helfen ungemein, diese Augenblicke zu genießen und miteinander wahrzunehmen, was es eben gerade braucht, denn schon nach 20 Sekunden werden diverse Hormone und Neurotransmitter aktiviert, die wohlige Gefühle anregen, und schon kann es ganz einfach sein, miteinander Nähe und vielleicht viel mehr zu genießen, als nebeneinander etwas voneinander zu erwarten. (Nicole Siller, 26.5.2023)