Im Gastblog erläutert Johannes C. Huber, wie man mathematisch die verschiedenen Verwandtschaftsgrade bestimmt.

Das Thema Verwandtschaft ist unglaublich vielseitig. Mit Aszendenz- oder Ahnentafeln (auch Ahnenblättern) können wir bis zu einem gewissen Grad in die Vergangenheit und mit Deszendenz- oder Nachkommentafeln (auch Stammbäumen1) in die Zukunft blicken. Dabei handelt es sich um Baumdiagramme, die zur Übersicht unserer Vorfahren beziehungsweise Nachkommen dienen. Wir stellen in beiden Fällen den Ausgangspunkt dar, und jede Generation vor beziehungsweise nach uns entspricht einer Pfadebene im Baumdiagramm. Wenn wir beide Darstellungen miteinander kombinieren, erhalten wir eine sogenannte Konsanguinitäts- beziehungsweise Verwandtschaftstafel:

Verwandtschaftstafel
Verwandtschaftstafel
Foto: Johannes C. Huber

Diese können wir uns wie eine Art Periodensystem für miteinander verwandte Personen vorstellen. Normalerweise finden wir darin auch Angaben zum Grad der Verwandtschaft, auf den ich im Laufe dieses Beitrags näher eingehen möchte. Wenn wir nämlich auf Deutsch vom Verwandtschaftsgrad sprechen, müssen wir zwischen mehreren Arten unterscheiden. Schließlich gibt es neben dem genetischen und dem rechtlichen Verwandtschaftsgrad außerdem noch den sogenannten Generationenabstand.

Wie kann Verwandtschaft beziffert werden?

Zunächst einmal schauen wir uns den genetischen Verwandtschaftsgrad an, den wir umgangssprachlich auch als Blutsverwandtschaft bezeichnen. Dieser hängt damit zusammen, wie sehr unser Erbgut dem einer anderen Person ähnelt, und wird mit dem sogenannten Verwandtschaftskoeffizienten (kurz: R) angegeben. Dabei handelt es sich um die Wahrscheinlichkeit, dass ein zufällig ausgewähltes Gen von uns mit dem einer anderen Person übereinstimmt. Der jeweilige Grad ist die Hochzahl der Potenz vom Faktor ein Halbes:

Formel zur Berechnung der Verwandtschaftsgrade
Der Verwandtschaftskoeffizient (kurz: R) gibt die Nähe oder Ferne zu einer anderen Person auf dem Stammbaum an.
Foto: Johannes C. Huber

Unser eigener Verwandtschaftskoeffizient ist gleich eins, also ist unser Grad gleich null. Das ist nicht weiter verwunderlich, da wir selbstverständlich vollständig mit unserem eigenen Erbgut übereinstimmen. Die einzigen anderen Personen mit dieser Eigenschaft sind übrigens eineiige Zwillinge und Klone. Mit unseren Eltern und Kindern teilen wir uns im Schnitt nur noch die Hälfte unseres Erbguts, weshalb sie den Grad eins haben. Großeltern und Enkelkinder wiederum haben durchschnittlich nur mehr ein Viertel ihres Erbguts mit uns gemeinsam und daher Grad zwei. Der Verwandtschaftskoeffizient nimmt also mit jeder Pfadebene der sogenannten linearen Verwandtschaft (direkte Abstammung) um die Hälfte ab und der genetische Grad der Verwandtschaft um eins zu.

Bei der sogenannten Seitenverwandtschaft (indirekte Abstammung) müssen wir lediglich berücksichtigen, dass sich Vollgeschwister durchschnittlich ebenfalls die Hälfte des Erbguts teilen, weil ihre Eltern jeweils die Hälfte beisteuern. Sobald wir also eine Abzweigung zum Pfad einer Seitenlinie nehmen, lassen wir den Faktor ein Halbes einmal weg. Cousinen und Cousins haben beispielsweise den Verwandtschaftskoeffizienten ein Achtel und somit den genetischen Verwandtschaftsgrad drei. Das liegt daran, dass wir mit unseren Tanten und Onkel durchschnittlich gleich stark verwandt sind, wie mit unseren Großeltern und daher für Cousinen und Cousins nur noch ein weiteres Mal mit dem Faktor ein Halbes multiplizieren müssen. Mit dieser Vorgehensweise kommen wir auf folgende Verwandtschaftsgrade:

Verwandtschaftsgrade
Verwandtschaftsgrade nach Genetik – je höher der Grad, desto weniger durchschnittliche Erbgutübereinstimmung. Legende: 0 (Grau), 1 (Rot), 2 (Grün), 3 (Blau), 4 (Gelb), 5 (Magenta), 6 (Türkis), 7 (Indigo), 8 (Orange).
Foto: Johannes Huber 

Ist Blut immer dicker als Wasser?

Der rechtliche Verwandtschaftsgrad ist unter anderem bei Obsorge- und Erbschaftsfragen von Bedeutung und hängt nicht notwendigerweise mit Blutsverwandtschaft zusammen, da beispielsweise auch adoptierte Kinder berücksichtigt werden. Er entspricht aber in vielen Fällen dem genetischen und kann auf zwei verschiedene Arten bestimmt werden. Es gibt dafür einerseits die Vorgehensweise des bürgerlichen Rechts, das sich am römischen Recht orientiert, und andererseits jene des kanonischen Rechts der katholischen Kirche, das sich am germanischen Recht orientiert.

Um den zivilrechtlichen Verwandtschaftsgrad zu bestimmen, suchen wir den kürzesten direkten Weg zwischen zwei Verwandten. Wir selbst sind dabei der Ausgangspunkt und haben dementsprechend den Grad null (ähnlich wie bei einem Koordinatensystem). All unsere unmittelbaren Vorfahren (Eltern) und Nachkommen (Kinder) haben den Grad eins. Durch jede weitere Pfadebene nimmt der Grad um eins zu. So haben beispielsweise die eigenen Großeltern oder Enkel schon den Grad zwei und die Urgroßeltern und -enkel den Grad drei.

Bei der Seitenverwandtschaft wird es vermeintlich komplizierter, denn es erscheint uns möglicherweise eigenartig, dass unsere Geschwister in diesem Fall den Grad zwei haben, obwohl wir Teil derselben Generation sind. Alle Einträge in dieser Pfadebene sind allerdings nicht direkt miteinander verbunden, weshalb wir einen Umweg gehen müssen.

Glücklicherweise gibt es eine einfache Regel, mit der wir den rechtlichen Verwandtschaftsgrad für beide Arten der Abstammung bestimmen können: Dazu gehen wir einfach die Pfade im Baumdiagramm entlang und zählen die sogenannten vermittelnden, das heißt dazwischenliegenden Geburten. Eine andere Möglichkeit ist, die Anzahl aller Personen beider Linien zu zählen und eine (das Stammesoberhaupt) abzuziehen. Die Vorgehensweise ähnelt also jener des genetischen Verwandtschaftsgrads.

Nun sollte klar sein, wieso Geschwister den gleichen Grad haben wie Großeltern und Enkel. Unsere Eltern und Kinder sind nur eine Geburt von uns entfernt. Zwischen uns und unseren Geschwistern sind es jedoch zwei: eine davon liegt zwischen uns und unseren Eltern und die andere zwischen unseren Eltern und dem jeweiligen Geschwisterkind. Unsere Cousins und Cousinen sind vier Geburten von uns entfernt und haben deshalb den Verwandtschaftsgrad vier. Cousins und Cousinen zweiten und dritten Grades heißen zwar so, haben aber den rechtlichen Grad sechs beziehungsweise acht. Auf diesem Weg ergeben sich folgende Grade:

Verwandtschaftsgrade
Verwandtschaftsgrade nach Zivilrecht – je höher der Grad, desto mehr Geburten liegen zwischen den beiden Personen. Legende: 0 (Grau), 1 (Rot), 2 (Grün), 3 (Blau), 4 (Gelb), 5 (Magenta), 6 (Türkis), 7 (Indigo), 8 (Orange).
Foto: Johannes Huber

Das heutzutage weniger relevante Kirchenrecht ist ein sogenanntes Gewohnheitsrecht und funktioniert im Hinblick auf den Verwandtschaftsgrad ähnlich, denn auch hier suchen wir den kürzesten Weg zwischen zwei Verwandten, indem wir den längeren Abstand zum letzten gemeinsamen Vorfahren berechnen. Praktisch bedeutet das, dass wir uns nicht immer streng entlang der Pfadlinien bewegen müssen, da Seitwärtsbewegungen in derselben Generation nun auch zulässig sind. Jede Bewegung im Baumdiagramm nach oben, unten oder seitlich erhöht dabei den Verwandtschaftsgrad um eins. Bei der direkten Verwandtschaft macht das keinen Unterschied, aber zusätzlich zu unseren Eltern und Kindern haben in diesem Fall auch unsere Geschwister den Grad eins. Unsere Großeltern, Tanten und Onkel, Cousinen und Cousins, Neffen und Nichten sowie Enkelkinder haben dadurch alle den Grad zwei und so weiter:

Verwandtschaftsgrade
Verwandtschaftsgrade nach Gewohnheitsrecht –je höher der Grad, desto größer der Abstand zum letzten gemeinsamen Vorfahren.Legende: 0 (Grau), 1 (Rot), 2 (Grün), 3 (Blau), 4 (Gelb), 5 (Magenta), 6 (Türkis), 7 (Indigo), 8 (Orange).
Foto: Johannes Huber 

Gleichzeitig verschiedene Verwandtschaftsgrade?

Nun fragen wir uns möglicherweise, warum viele Bezeichnungen für Verwandte den Zusatz "n. Grades" haben, wenn dieser doch in den meisten Fällen gar nicht stimmt. Das hängt mit dem bereits erwähnten Generationenabstand zusammen. Dieser wird ebenfalls als Grad angegeben und daher oft mit anderen Verwandtschaftsgraden verwechselt. Wie der Name schon sagt, handelt es sich dabei um einen weiteren Abstand, den wir in unserem Baumdiagramm ablesen können. Im Gegensatz zu den anderen Angaben sagt er jedoch etwas darüber aus, wann sich die jeweilige Stammlinie einer verwandten Person abgezweigt hat. Dazu zählt man den Abstand zur letzten Generation, die von gemeinsamen Vorfahren abstammt.

Unsere Cousins und Cousinen beispielsweise befinden sich zwar in derselben Generation wie wir, sind aber Verwandte ersten Grades, weil ihre Stammlinie sich eine Generation davor abgezweigt hat. Unsere gemeinsamen Vorfahren sind also in diesem Fall unsere Großeltern und die beiden Stammlinien jene unserer jeweiligen Eltern. Geschwister sind somit quasi Cousins und Cousinen nullten Grades, weil sich ihre Stammlinie erst in unserer Generation abzweigt. Bei Cousin und Cousinen zweiten Grades hingegen hat sich die entsprechende Seitenlinie zwei Generationen früher abgezweigt, und zwar in der Generation, die von den Urgroßeltern abstammt. Die beiden Stammlinien sind in diesem Fall jene unserer jeweiligen Großeltern. Bei Cousinen und Cousins dritten Grades ist das wiederum vor drei Generationen passiert und so weiter:

Verwandtschaftsgrade nach Generationenabstand
Verwandtschaftsgrade nach Generationenabstand – je höher der Grad, desto länger ist es her, dass sich eine Stammlinie abgezweigt hat. Legende: 0 (Grau), 1 (Rot), 2 (Grün), 3 (Blau) und 4 (Gelb).
Foto: Johannes Huber

Und was ist mit angeheirateter Verwandtschaft?

Ich erzähle gerne, dass mein Mitbewohner mein Cousin dritten Grades ist, weil sein Onkel meine Tante geheiratet hat. In Wirklichkeit sind wir aber nicht blutsverwandt, sondern nur entfernt verschwägert und würden uns deshalb eher in einer sogenannten Affinitätstafel wiederfinden. Da wir beide Neffen von verheirateten Verwandten sind, macht uns das Ganze allenfalls zu Schwippschwägern. Diese Bezeichnung ist allerdings eher für Geschwister von Eheleuten gebräuchlich, was in diesem Fall unsere Eltern sind.

Ich behaupte aber, dass man uns mit Cousins dritten Grades vergleichen kann, und begründe meine Aussage damit, dass echte Cousins dritten Grades in Bezug auf die Erbgutübereinstimmung bereits sehr weit voneinander entfernt sind. Sie weisen also einen vernachlässigbar kleinen Verwandtschaftskoeffizienten auf und sind dadurch, statistisch gesehen, weniger miteinander verwandt als zwei zufällig ausgewählte nicht blutsverwandte Personen aus derselben Bevölkerungsgruppe. In anderen Worten: Wir wären theoretisch vielleicht sogar weniger miteinander verwandt, wenn wir tatsächlich miteinander verwandt wären. (Johannes C. Huber, 26.5.2023)