New York – Keith Gessen ist Roman- und Sachbuchautor, Essayist, Übersetzer und arbeitet als Assistenzprofessor für Magazinjournalismus an der Columbia Journalism School. Der heute 48-Jährige ist Gründungsherausgeber des Literaturmagazins n+1 und schreibt unter anderem für den New Yorker, das New York Times Magazine und die London Review of Books. Gessen ist Autor der Romane "All the Sad Young Literary Men" (2008) und "A Terrible Country" (2018) sowie der Essaysammlung "Raising Raffi" (2022). Als Übersetzer tat er sich unter anderem mit der Arbeit an Swetlana Alexijewitschs "Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft" ("Voices from Chernobyl", 2005) hervor, einer von der Literaturnobelpreisträgerin zusammengestellten Oral History der nuklearen Katastrophe, auf der die erfolgreiche HBO-Serie "Chernobyl" (2019) basiert.

Der Großteil von Gessens journalistischer Arbeit konzentriert sich auf die Auswirkungen des Zusammenbruchs des Kommunismus auf die Länder der ehemaligen Sowjetunion. Gessen wurde in Moskau geboren, kam mit sechs Jahren in die USA und wuchs dort in einem Vorort von Boston auf. Heute lebt und arbeitet er in Brooklyn, New York. Seine ältere Schwester Masha Gessen ist ebenfalls Publizistin und vor allem für ihre Arbeit über Putins Russland bekannt.

Keith Gessens journalistische Arbeit konzentriert sich auf die Auswirkungen des Zusammenbruchs des Kommunismus auf die Länder der ehemaligen Sowjetunion.
Foto: Stimeder

STANDARD: Herr Gessen, wenn man im Frühjahr 2023 durch New York City spaziert und mit Leuten über die Ukraine redet, scheint es, als ob den meisten Menschen hier – selbst in Vierteln mit einer hohen Dichte an Migranten aus den ehemaligen Sowjetrepubliken – ziemlich egal ist, was dort passiert. Ist dieser Eindruck falsch?

Gessen: Amerikanische Außenpolitik ist seit jeher eine Angelegenheit der Elite. Während New York deshalb nicht der beste Ort ist, um Menschen zu treffen, denen der Krieg nahegeht, beschäftigt er die Leute in D.C. sehr wohl. Allen voran die Biden-Regierung – letzten Endes ist es ihr Krieg. Wie Putins Regierung muss sie in der Lage sein, alles, was passiert, der eigenen Bevölkerung zu verkaufen. Vor allem muss sie plausibel erklären, was ein Sieg der USA in der Ukraine heißt. In gewisser Weise könnte sie das schon jetzt tun. Die Ukraine existiert immer noch als Nation mit einer demokratisch gewählten Regierung an der Macht, und die Biden-Regierung hat dazu beigetragen, ihre Souveränität zu verteidigen und sogar einige Gebiete zurückzuerobern.

STANDARD: In der Ukraine herrscht zunehmend Unsicherheit darüber, was passieren wird, wenn der nächste US-Präsident ein Republikaner ist. Was sollen sie und der Rest der Welt davon halten, dass sich einige hochrangige GOP-Politiker skeptisch über die Unterstützung für die Ukraine äußern?

Gessen: Na ja, da geht es vor allem um Donald Trump, und der ist völlig unberechenbar. Einerseits sagt er Dinge, die stark isolationistisch klingen, wie: "Was machen wir in der Ukraine? Warum helfen wir ihnen?" Aber dann sagt er auch Dinge wie: "Oh, wir verlieren diesen Krieg, und das würde nicht passieren, wenn ich Präsident wäre." Das Problem mit dieser Art von Rhetorik ist, dass ihm und den anderen Leuten, die sie in den Mund nehmen, die Ukraine oder Russland in Wirklichkeit egal sind. Für diese Politiker geht es nur darum, innenpolitisches Kleingeld zu schlagen. In der Demokratischen Partei ist die isolationistische Strömung schwächer, aber es gibt sie auch dort. Ich persönlich sympathisiere mit Letzterer, weil sie meiner Meinung nach legitime Fragen aufwirft wie: Ist ein unbefristetes Engagement zur Unterstützung der Ukraine wirklich im Interesse der USA?

STANDARD: Ist es das nicht? Was ist im Interesse der USA?

Gessen: Am Ende ist es die Ukraine, die entscheiden muss, ob sie weiterkämpfen will oder nicht. Aber auch die USA haben eine Wahl, und angesichts ihrer bisherigen Unterstützung glaube ich, dass sie ein Recht darauf haben zu sagen, was ihrer Meinung nach das Beste für die Ukraine ist. Es gibt in D.C. Vertreter einer realistischen Position, die keine Rechtsextremen sind und die argumentieren, dass die USA alle ihre strategischen Interessen schon im Frühjahr 2022 erreicht haben, namentlich ein geschwächtes und gedemütigtes Russland. Wie viel mehr die USA erreichen werden, wenn der Krieg weitergeht, ist dagegen völlig unklar. Die Art und Weise, wie es einer dieser Leute kürzlich mir gegenüber ausgedrückt hat, klang so: "Ein schwaches Russland ist gut für die USA. Ein Schurkenstaat Russland ist schlecht." Mit anderen Worten: Wenn wir es künftig mit einem völlig isolierten Russland im Stil von Nordkorea zu tun haben, wäre das nicht im Interesse der USA.

STANDARD: Das heißt, wenn die sogenannte realistische Fraktion oder die Isolationisten Erfolg haben, endet die Hilfe für die Ukraine?

Gessen: Schauen Sie, wenn ich etwas über Amerika weiß, dann das: Am Ende werden die USA ihre Verbündeten verraten, und sie werden auch die Ukraine verraten. Zunächst werden sie ein bisschen hilfreich sein, aber wenn es irgendwann zu schwierig, zu teuer oder zu langweilig wird, wird es auch damit vorbei sein. Jeder, der davon ausgeht, dass die USA ihrer offiziellen Rhetorik, ihrem Versprechen von Demokratie und Freiheit und so weiter gerecht werden, wird am Ende enttäuscht werden. Das ist zumindest das, was ich aus unserer Geschichte über unser Verhalten gelernt habe. Die USA sind ein kompliziertes Land mit vielen verschiedenen Interessengruppen und einer lebendigen Demokratie, in der alle paar Jahre die Macht wechselt. Folglich wird ihr Engagement für die Ukraine früher oder später enden, und jeder, der den Ukrainern etwas anderes sagt, lügt.

STANDARD: Sie sind in den USA aufgewachsen, wurden aber in Moskau geboren und haben in den letzten 30 Jahren viel Zeit in Russland und der Ukraine verbracht. Wie persönlich fühlt sich dieser Krieg für Sie an?

Gessen: Ich fühle mich sicher nicht gut, aber im Vergleich zu dem, was die Ukrainer durchmachen, sind mein Kummer und meine Enttäuschung vernachlässigbar. Tatsache ist, dass ich keine besondere Bindung zu Russland als politischer Einheit spüre und nie gespürt habe. Wie die meisten russischen Juden wurde meine Großmutter in der Ukraine geboren. Meine andere Großmutter stammt aus Polen. Ein anderer Teil meiner Familie stammt aus Belarus. Trotzdem habe ich immer versucht zu argumentieren, dass Russland andere Möglichkeiten offen standen und stehen als die, mit denen wir es jetzt zu tun haben. Ich war in den Neunzigerjahren dort, als es ein Ort mit großer Meinungsfreiheit und einer lebendigen Zivilgesellschaft war. Nachdem ich das erlebt habe, glaube ich ernsthaft daran, dass eine andere Art von Russland möglich ist.

Es ist ein kompliziertes Land mit vielen unterschiedlichen Ideen und Menschen. Es hat Stalin und Putin hervorgebracht, aber auch Tolstoi, Ludmilla Petruschewskaja und Marina Zwetajewa.
Wir dürfen auch die nicht vergessen, die aus Protest gegen den Krieg ihr Leben riskieren und zu sehr langen Gefängnisstrafen verurteilt werden. Einige dieser Leute habe ich selbst kennengelernt und interviewt, und jetzt verschwinden sie für zehn, 20 Jahre in den Strafkolonien. Aber so unglaublich mutig und inspirierend solche Akte des Widerstands auch sind – die Hauptaktivität Russlands besteht derzeit darin, Menschen in der Ukraine zu ermorden. Freilich: Der russische Staat hat das, was er jetzt tut, im Laufe seiner Geschichte immer und immer wieder getan. Wenn man es so betrachtet, läuft quasi alles wie gewohnt.

STANDARD: Wenn wir diesem Argument folgen: Heißt das, dass Wladimir Putin nur die jüngste Inkarnation eines typisch russischen Führers ist?

Gessen: Ich glaube, dass er es lange war. Aber die Frage, die sich heute stellt, ist eine andere: Ist Putin wirklich ein neuer Hitler? Ich würde behaupten, dass er das vor 2022 nicht war. Er verhielt sich sicher antidemokratisch und autoritär, aber er war kein ausgewachsener Diktator.

STANDARD: Ist er also ein neuer Hitler oder nicht?

Gessen: Ich würde sagen, er war es nicht, aber jetzt ist er es.

STANDARD: Warum scheint es in Russland kaum Widerstand gegen ihn und seine Systemerhalter zu geben?

Gessen: Als es im September 2022 zur sogenannten Teilmobilisierung kam, schien es viele Proteste zu geben. Aber die verschwanden schnell, sie lösten sich einfach in Luft auf. Selbst wenn es also zu großangelegten Protesten kommt, bedeutet das nicht unbedingt, dass das Land in eine revolutionäre Phase eintritt. Ich war Anfang 2012 in Russland, während der Massenproteste gegen die Ergebnisse der Duma-Wahl. Damals trat Alexej Nawalny gerade als Oppositionsführer hervor. Wenn man damals mit Leuten in Moskau sprach, sagten die meisten ohne zu zögern, dass Putin ein Idiot sei und dass sie ihn hassen – darunter auch viele Leute, die ihm lange treu ergeben waren. Damals hatte man wirklich den Eindruck, dass die Tage seines Regimes gezählt waren. Und jetzt sitzen wir hier, mehr als zehn Jahre später, und Putin ist immer noch an der Macht.

STANDARD: Eine Auswirkung der russischen Invasion der Ukraine ist, dass sie nicht nur als Kampf zwischen einer militarisierten Diktatur und einer liberalen Demokratie, sondern als Kolonialkrieg dargestellt wird. Wie denken Sie darüber?

Gessen: Ich muss zugeben, dass ich mit dieser Interpretation Probleme habe. Ich meine, das Russische Reich wurde jahrhundertelang buchstäblich so genannt. Nach der Revolution von 1917 retteten die Bolschewiken das Reich und bauten es dann wieder auf. Sie gaben den verschiedenen Republiken nominale Grenzen, regierten sie aber von Moskau aus. Dazu gab es einen bewussten Versuch, Gebiete in der Ukraine oder im Baltikum oder in Zentralasien mit ethnischen Russen zu besiedeln. Deshalb bin ich mir nicht ganz sicher, was ich von dieser Debatte halten soll, weil das alles nie ein Geheimnis war. Ich glaube, die wichtigere Frage heute lautet: Ist Russland unwiderruflich imperial? Kann es einfach nicht anders, und muss es deshalb verschwinden?

Im Frühjahr 2014 war ich in Odessa und habe darüber ein Gespräch mit dem berühmten ukrainischen Dichter Boris Chersonskij geführt. Ich war vorher in Kiew und hatte dort mit den Leuten auf dem Maidan gesprochen, und die sagten damals: "Wir hatten diese großartige Revolution, wir haben den Diktator gestürzt, und jetzt kommt Putin und macht unser Land kaputt." Aus dieser Erfahrung heraus erinnere ich mich, wie ich Chersonskij damals geradeheraus gefragt habe: "Soll Russland zerstört werden?" Und er antwortete: "So darf man nicht denken. Das kann man sich nicht wünschen, weil es nur eine andere Art ist zu sagen, dass man sich die Vernichtung eines ganzen Volkes wünscht." (Klaus Stimeder, 25.5.2023)