Der steigende Meeresspiegel ist auch für Europas Küsten eine bedrohliche Tatsache. Gerade weil die Küsten dieses Kontinents sehr dicht besiedelt sind, arbeiten Forschende an Strategien, die die Auswirkungen künftiger Schäden durch Hochwasser oder Sturmfluten minimieren sollen. Derartige Planungsinstrumente sind beispielsweise ein kontrollierter Rückzug oder auch die Einrichtung von sogenannten Setback-Zonen, also Küstengebieten, in denen bestimmte bauliche Aktivitäten eingeschränkt sind.

Ein Team der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) führte nun erstmals eine europaweite Modellstudie durch, mit der die Wirksamkeit solcher Setback-Zonen untersucht wurde. Das Fazit: In den meisten EU-Ländern würde die Einrichtung dieser Zonen bewirken, dass neue städtische Bebauung bis zum Jahr 2100 um mindestens 50 Prozent weniger gefährdet ist.

Ein Radfahrer meistert die Unbillen einer Überschwemmung in Bremen. In den nächsten Jahrzehnten werden in Europa mehr und mehr Küstenstädte von Hochwasser und Sturmfluten bedroht sein.
EPA/FOCKE STRANGMANN

Gestaltung und Gefahr

"Unsere Modellstudie ist die erste ihrer Art und kann dazu beitragen, geeignete Maßnahmen zum Schutz von Städten und Gebieten entlang der europäischen Küsten zu entwickeln", sagt Claudia Wolff (Uni Kiel), die Erstautorin der im Fachjournal "Scientific Reports" präsentierten Studie. Die Ergebnisse würden verdeutlichen, dass die künftige Gefährdung der Küstenstädte durch den Meeresspiegel wesentlich davon abhängen wird, wie der städtische Raum in den EU-Küstengebieten geplant, gestaltet und entwickelt wird.

"Bei der Entwicklung von Setback-Zonen sollte nicht nur die Entfernung eines Gebiets von der Küste berücksichtigt werden, sondern zukünftig auch die Geländehöhe über dem Meeresspiegel, was nach unserem Kenntnisstand auf europäischer Ebene derzeit nicht diskutiert wird. So können Städte und Küstengebiete besser vor den Risiken eines zukünftigen Meeresspiegelanstiegs geschützt werden", meint Wolff.

Die Forschenden entwickelten in ihrer Modellierung unter anderem Szenarien für die niedrig gelegene Küstenzone unter 20 Meter Geländehöhe. Diese umfasst eine Gesamtfläche von 6,3 Prozent der EU-Küstenstaaten, in denen derzeit 15,1 Prozent des verstädterten Raums liegen. Neben der physischen Komponente, also wie sich Küstengebiete durch einen steigenden Meeresspiegel verändern, beurteilte das Team speziell die sozioökonomischen Entwicklungen und verschiedene Arten von Setback-Zonen.

EU-Staaten mit Meeresküsten (plus Bosnien und Herzegowina, Großbritannien und Norwegen) und ihren niedrigen, gefährdeten Küstenregionen (E-LECZ = Gebiete unter 20 Meter Seehöhe): links urbane Zonen in diesen Gebieten, rechts Anteil der E-LECZ-Gebiete am Staatsgebiet.
Grafik: Wolff et al.

Hilfe von neuronalem Netz

Dabei untersuchten die Forschenden, wie sich urbane Flächen durch höhere Besiedelung verändern und wie sich die Exponiertheit und Risiken gegenüber einem steigenden Meeresspiegel in dem jeweiligen Gebiet zukünftig entwickeln könnten. So haben die Wissenschafterinnen und Wissenschafter länderspezifisch Stadtentwicklungen für alle EU-Küstenstaaten modelliert. Die Gruppe nutzte hierbei zunächst ein künstliches neuronales Netzwerk, das anhand von Parametern wie Geländehöhe, Bevölkerungsdichte und Distanz zum Straßennetzwerk das Stadtentwicklungspotenzial für jedes Land vorhersagte.

Anschließend berechnete sie den Bedarf an städtischer Fläche unter Berücksichtigung unterschiedlicher sozioökonomischer Faktoren und erstellte räumlich explizite Projektionen mit einer Auflösung von 100 Metern. In diese Projektionen wurden verschiedene Setback-Zonen integriert, um die Effektivität solcher Raumplanungsinstrumente bei steigendem Meeresspiegel analysieren zu können.

Nicht jeder Abschnitt lässt sich schützen

Dabei zeigte sich, dass Setback-Zonen für Länder und Regionen mit langer Küstenlinie besonders interessant sind, denn dort lässt sich laut Wolff nicht jeder Abschnitt schützen. Für konkrete Planungen und Entscheidungen seien in Zukunft weitere lokale und detaillierte Studien nötig. Hierzu forscht Athanasios Vafeidis, Koautor der Studie, im EU-Horizon-2020-Projekt "Coastal Climate Core Services" (CoCliCo). "Das Projekt zielt darauf ab, Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger besser über Maßnahmen und Anpassungen beim Küstenschutz und Meeresspiegelanstieg zu informieren", sagt Vafeidis. (red, 24.5.2023)