Die Sprachwissenschafter Ruth Wodak und Martin Reisigl schreiben in ihrem Gastkommentar über Herbert Kickls politische Botschaften und rufen seine vielen Aussagen in Erinnerung.

Es überrascht, dass sich viele von Herbert Kickls politischen Ansichten und der Tonalität, in der er seine extremen, aber leider schon teilweise normalisierten Inhalte verlautbart, überrascht zeigen. Warum erfasst viele Österreicher:innen eine kollektive Amnesie, wenn es um die programmatischen Agenden und Regierungsperformance der FPÖ geht? Warum geraten viele demokratiepolitisch problematische "Sager" Kickls so leicht in Vergessenheit?

FPÖ-Chef Herbert Kickl hat die traditionelle blaue Kundgebung am 1. Mai einmal mehr für den Kanzleranspruch genutzt. Als Kanzler werde er gegen Migranten, das Gendern, und die ORF-Haushaltsabgabe vorgehen, sagte er in einem Bierzelt in Linz
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Schon zu Zeiten, als sich Jörg Haider am Zenit seiner politischen Karriere befand, war Kickl als Parteistratege und Ghostwriter für seine Propaganda mitverantwortlich, für viele diskriminierende Slogans und Metaphern, die sich gegen interne und externe Feindbilder richteten. Auch als Heinz-Christian Strache die FPÖ anführte, war Kickls Handschrift stark präsent: Zweizeilige Reime wie "Schweinskotlett statt Minarett" und "Volksvertreter statt EU-Verräter" erreichten hohen Bekanntheitsgrad. In Krisenzeiten Sündenböcke zu konstruieren, sich als Retter zu inszenieren und so Hoffnung auf "Erlösung" zu wecken, ist seit Haider die zugrunde liegende Strategie der FPÖ.

Wittert seine große Chance: FPÖ-Chef Herbert Kickl.
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Typische Register

Mit der Forderung, "Flüchtlinge an einem Ort konzentriert zu halten" (10. 1. 2018), assoziierten im In- und Ausland viele eine Anspielung auf Konzentrationslager. Mit seiner Position, dass "das Recht der Politik zu folgen habe", stellte Kickl am 22. 1. 2019 das rechtsstaatliche Prinzip und die Europäische Menschenrechtskonvention infrage. Dies sind nur wenige Beispiele aus der langen Liste sogenannter Einzelfälle, die in der zweiten ÖVP-FPÖ-Koalition ohne starken Widerspruch blieben, jedoch in der Zivilgesellschaft Entsetzen auslösten. Die Koalition scheiterte zuletzt an "Ibiza", nicht an den genannten Provokationen und Skandalisierungen, ebenfalls eine bekannte diskursive Strategie der FPÖ. Sie bedient sich der Logik der Medien, um Aufmerksamkeit zu erregen und das Agenda-Setting zu dominieren.

Um wichtige Inhalte der FPÖ zusammenzufassen, kann man auch die Partei- und Wahlprogramme der FPÖ heranziehen: "Grenzen schließen", anachronistische Genderpolitik mit biologistischen und homophoben Elementen, EU-Skepsis, nativistischer Nationalismus und eine gegen Mehrsprachigkeit gerichtete Überbetonung der deutschen Sprache. Und jetzt – 2023 – finden diese politischen Agenden ihren Niederschlag im niederösterreichischen Koalitionsvertrag zwischen Udo Landbauer und Johanna Mikl-Leitner (ÖVP). Mithin müsste allen klar sein, wofür die FPÖ steht – einerlei, ob in sanfteren Tönen oder demagogischer Form ausgedrückt, die an "Falsche Propheten" (Leo Löwenthals und Norbert Gutermans 1949 erschienene Studien zur politischen Demagogie, Anm.) erinnern.

"Die Gerechtigkeit, die Kickl mit seinem Willen zur Macht androht, mag einer Minderheit Hoffnung machen, der demokratischen Mehrheit jedoch Angst."

Einen rezenten Höhepunkt setzt Kickl in seiner 1.-Mai-Rede, in der er viele typische Register des Rechtspopulismus zieht: Der FPÖ-Chef suggeriert – ganz im Widerspruch zur neoliberalen Regierungspolitik der beiden ÖVP-FPÖ-Koalitionen 2000 bis 2006 und 2017 bis 2019 –, Sprachrohr der "kleinen Leute" zu sein, deren Wut die FPÖ nicht nur aufgreift, sondern mitschürt. Wir begegnen einer binären Feindbildkonstruktion, die suggeriert, es gebe in der politischen Landschaft nur zwei Lager: eine vermeintliche "Einheitspartei" und die FPÖ, die angeblich die "Mitte der Gesellschaft" und die "schweigende Mehrheit" repräsentiere. Um Gegner:innen abzuwerten, bedient sich Kickl beschimpfender Kalauer und suggestiver rhetorischer Figuren. Die externen Feindbilder der FPÖ umfassen international anerkannte Organisationen wie die EU, die Uno, die WHO und den Weltklimarat.

Das Motto "Wind of Change" und Bewegungsmetaphern ("nichts und niemand kann uns bremsen") charakterisieren einen angeblich unaufhaltsamen Erfolgsweg der FPÖ. Die Forderung nach Veränderung verzichtet nicht auf gewaltvolle Sprachbilder: Die vermeintliche "Spur der Verwüstung", welche die Regierung hinterlasse, müsse durch "Schulterschluss", "Treten nach oben" und das "In-die-Zange-Nehmen" derer, "die es nicht gut meinen mit uns", beseitigt werden. Kickl verstrickt sich in seiner Rede in – teilweise kalkulierte – Widersprüche, um SPÖ-Wähler:innen anzusprechen, wobei er sich – wie schon Haider und Strache – auf die Autorität Bruno Kreiskys beruft. Er geriert sich als Verteidiger der Neutralität, um das Naheverhältnis der FPÖ zu Wladimir Putins Russland zu erhalten, obwohl sich die FPÖ früher immer wieder für einen Beitritt zur Nato ausgesprochen hat. Er lehnt eine generationengerechte Klimapolitik ab, obwohl er den "Diebstahl an der Zukunft unserer Kinder" moniert. Kickl betont eine anachronistische Familien- und Geschlechterpolitik, obwohl sich bekanntlich auch in der FPÖ "Karrierefrauen" finden.

Wille zur Macht

Einen zentralen Frame der Rede bilden die positiv besetzten Signalwörter Wahrheit, Freiheit und Gerechtigkeit. Dabei stützt Kickl seinen Alleinanspruch auf die Wahrheit auf den "Hausverstand" und nicht auf faktenbasierte Wissenschaft. Sein Vorbild ist das sogenannte "illiberale", autokratische Modell Viktor Orbáns, sowohl was die Ausgrenzung von Asylsuchenden ("Festung Österreich"), die Islamfeindlichkeit als auch die Medienpolitik betrifft. Die Gerechtigkeit, die Kickl mit seinem Willen zur Macht androht, mag einer Minderheit Hoffnung machen, der demokratischen Mehrheit jedoch Angst.

Hoffen wir, dass die kollektive Amnesie einer Besinnung auf rechtsstaatliche Vernunft und demokratische Legitimität weicht. Im Rückblick kann jedenfalls niemand behaupten, die Positionen der FPÖ nicht ausreichend gekannt zu haben. (Ruth Wodak, Martin Reisigl, 24.5.2023)