Vier Tage vor der Stichwahl um das türkische Präsidentenamt scheint das Rennen schon so gut wie entschieden. Die Aussichten von Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu sind nochmals ein gutes Stück düsterer geworden, weil der im ersten Wahlgang drittplatzierte Rechtsnationalist Sinan Oğan seine Anhängerschaft dazu aufgerufen hat, das amtierende Staatsoberhaupt Recep Tayyip Erdoğan zu unterstützen. Das könnte bereits dazu reichen, dass Erdoğan, der im ersten Wahlgang am 14. Mai auf 49,3 Prozent der Stimmen gekommen war, die Stichwahl am Sonntag gewinnt. Allerdings ist sich das Lager von Oğan, der 5,3 Prozent geholt hatte, nicht einig. Der engste Führungskreis ist gespalten, einige seiner bisherigen Mitstreiter haben sich für Kılıçdaroğlu ausgesprochen.

Erdogan-Plakat in Ankara
Ein riesiges Plakat von Recep Tayyip Erdoğan mit dem Slogan "Weitermachen mit dem richtigen Mann" ist in Ankara zu sehen.
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Doch völlig unabhängig von den Stimmen, die das Oğan-Lager möglicherweise zu verteilen hat, steht Kılıçdaroğlu vor einer schier unlösbaren Aufgabe. Er kam im ersten Wahlgang auf knapp 45 Prozent und muss nun zusätzliche Stimmen im rechten, nationalistischen Lager für sich gewinnen und Nichtwählerinnen und Nichtwähler  mobilisieren, ohne seine bisherigen Anhänger zu verprellen. Der 74-Jährige und sein Team haben sich nach dem ersten Wahlgang dafür entschieden, voll auf rechte nationalistische Wähler zu setzen in der Erwartung, dass linke und kurdische Wähler sowieso nicht zu Erdoğan überlaufen werden.

Video von vor dem ersten Wahlgang: Welche Pläne hat Kemal Kılıçdaroğlu, der gemeinsame Kandidat der türkischen Opposition?
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Kılıçdaroğlu will rechte Wähler ansprechen

Seine Themen sind jetzt "Terrorismus bekämpfen" und verstärkt Flüchtlinge abschieben, insbesondere die knapp vier Millionen aus Syrien. Zwar hat Kılıçdaroğlu auch davor schon davon gesprochen, dass die Türkei angesichts von Wirtschaftskrise und verbreiteter Armut keine Kapazitäten für die Versorgung von Flüchtlingen mehr habe. Aber in dem eigentlichen Programm der Opposition ist vorgesehen, Flüchtlinge ohne rassistische Kampagnen nur dann nach Syrien zu schicken, wenn zuvor in Verhandlungen mit dem Assad-Regime deren Sicherheit gewährleistet werde. Davon ist jetzt nicht mehr die Rede. Nun sollen alle Flüchtlinge "sofort" zurückgeschickt werden.

Hatte Kılıçdaroğlu zudem in seiner eigentlichen Wahlkampagne Demokratie, Gerechtigkeit und Freiheitsrechte in den Mittelpunkt gestellt, will er nun "mit aller Härte" den Terrorismus bekämpfen. Das ist auch eine Reaktion auf eine verleumderische Kampagne des Erdoğan-Lagers, die ihn seit Wochen mit gefälschten Videos als angeblichen Befehlsempfänger der PKK-Führung darzustellen versucht, weil Kılıçdaroğlu indirekt auch von der kurdischen HDP unterstützt wurde.

Als Reaktion darauf wirft Kılıçdaroğlu nun Erdoğan vor, er habe ja schon mit "den Terroristen" verhandelt, was er niemals tun würde. Diese Diktion wirft allerdings die Gefahr auf, dass viele kurdische Wähler, die sowieso von dem schlechten Abschneiden ihrer Partei bei der Parlamentswahl frustriert sind, bei der Abstimmung am Sonntag gleich zu Hause bleiben.

Frust im Oppositionslager

Wahlenthaltung aus Frustration, nicht nur bei den Kurden, sondern auch bei vielen linken WählerInnen in den Metropolen, könnte sich als das größte Problem Kılıçdaroğlus herausstellen. Denn gerade viele linke Wählerinnen und Wähler werfen Kılıçdaroğlu und der CHP vor, sie hätten viel zu wenig dagegen getan, dass Stimmen durch Wahlmanipulation falsch gezählt wurden oder unter den Tisch gefallen sind. Genau um das zu verhindern, hat die Istanbuler CHP-Vorsitzende Canan Kaftancıoğlu, die linke Ikone der CHP, vor wenigen Tagen behauptet, sie hätten jetzt alles unter Kontrolle, man solle auf jeden Fall wählen gehen.

Sowohl die Opposition wie auch die Regierung verzichten in den zwei Wochen zwischen den beiden Wahlgängen darauf, noch einmal die Leute zu Großveranstaltungen einzuladen. Stattdessen findet der Wahlkampf im kleineren Rahmen, im Fernsehen und über die sozialen Medien statt. Erdoğan tourt hauptsächlich durch das Erdbebengebiet und verspricht den Leuten, wo und wie viele neue Häuser er noch heuer wiederaufbauen lassen will. Dabei kann er immer noch auf sein Macher-Image vertrauen, weil viele trotz des Regierungsversagens nach dem Beben sagen: Wenn das einer schafft, dann Erdoğan. Ohne Großveranstaltungen übernimmt jetzt aber auch wieder das Fernsehen die Hauptrolle, wo 90 Prozent der TV-Sender mehr oder weniger unter der Kontrolle der Regierung stehen. Kılıçdaroğlu wird dagegen nur von kleinen Spartensendern mit geringer Reichweite unterstützt.

Trotzdem haben viele Leute noch Hoffnung auf einen Oppositionssieg. Vor allem junge WählerInnen sagen in vielen Interviews: "Ich gehen auf jeden Fall zur Stichwahl." (Jürgen Gottschlich aus Istanbul, 25.5.2023)