Mit grimmiger Miene wandte sich Kyrylo Budanow am Montag an den Feind: Russlands Soldaten, erklärte der Chef des ukrainischen Militärgeheimdiensts in russischer Sprache, hätten nur die Wahl zwischen Fahnenflucht und Tod. Nur wer sich seinen Truppen ergebe, habe eine Chance, dem "Fleischwolf" zu entgehen. Hunderte russische Soldaten lebten bereits sicher und friedlich in ukrainischen Lagern, könnten mit der Familie Kontakt halten und erhielten drei Mahlzeiten am Tag. Diesen Verheißungen schickte Budanow, der als geschickter Propagandist gilt, eine düstere Warnung hinterher: Wenn die Ukraine mit ihrer langerwarteten Gegenoffensive erst beginne, "wird es noch schlimmer".

Der Appell von Geheimdienstchef Budanow.

Wie, wo und wann sich die Offensive konkret entfalten wird, ist bisher freilich reine Spekulation. Unklar ist auch, ob die monatelangen Kämpfe in Bachmut – oder gar die Angriffe offenbar proukrainischer Verbände in der russischen Region Belgorod zu Wochenbeginn – bloß eine Präambel waren oder bereits Teil des angekündigten großen ukrainischen Gegenschlags sind.

Der Druck steigt

An der Propagandafront hat die Ukraine ihre Frühlingsoffensive freilich längst begonnen. Wochenlang tourte Präsident Wolodymyr Selenskyj von Hauptstadt zu Hauptstadt, reiste von London über Saudi-Arabien nach Japan, um sich der Solidarität seiner Partner zu versichern – aber wohl auch, um diese von Sinn und Zweck ihres Engagements zu überzeugen. Der Druck auf die Ukraine, die westliche Hilfe in Ergebnisse auf dem Schlachtfeld zu übersetzen, steigt unterdessen mit jedem Tag.

Doch warum verzögert sich die Gegenoffensive auf dem Feld – oder hat sie eigentlich längst begonnen? DER STANDARD hat sich unter Fachleuten umgehört.

Indizien, die dafür sprechen, dass eine Offensive unmittelbar bevorsteht, gab es in den vergangenen Wochen zuhauf: Ukrainische Raketen- und Drohnenangriffe auf russische Kommandozentralen und Treibstoff- und Munitionsdepots sowie Sabotageakte etwa gegen die Eisenbahninfrastruktur sollen den Boden für einen Großangriff bereiten. "Diese Angriffe sind typische Shaping Operations, mit denen die Ukraine versucht, es dem Gegner unmöglich zu machen, auf einen folgenden Angriff der Landstreitkräfte zu reagieren", sagt Markus Reisner von der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt.

Soldat Ukraine Bachmut Kanone
Die ukrainische Armee bereitet sich – so wie hier in der Nähe von Bachmut – auf ihre Frühlingsoffensive vor.
AP/Libkos

Zugleich dürfte die Ukraine aktuell ihre Flugabwehrbatterien näher an die Front verschieben, was der Analyst ebenfalls als Hinweis auf eine bald beginnende Offensive betrachtet. Sondierungsangriffe in der Region Saporischschja lassen darauf schließen, dass die ukrainische Armee die russischen Verteidigungslinien bereits auf Schwächen abklopft. "Die Ukraine wird vermutlich auch gar nicht offiziell den Beginn der Offensive verkünden, weil sie dadurch natürlich unter enormen Handlungsdruck geraten würde."

Gräben wie im Ersten Weltkrieg

Auf ein Überraschungsmoment, etwa so wie im vergangenen Sommer in der Region Charkiw, können die Kiewer Strategen diesmal freilich nur bedingt hoffen. Den ganzen Winter über hat Russland seine Verteidigungslinien entlang der fast 1.000 Kilometer langen Front massiv ausgebaut. Rund um die im Herbst eroberten Industriestädte Lyssytschansk, Sjewjerodonezk und Popasna im Osten, bei Kupjansk im Norden sowie im Süden bei Saporischschja lässt sich auf Satellitenaufnahmen ein engmaschiges Netz aus Panzergräben, sogenannten Drachenzähnen, Stacheldrahtbarrikaden und Minenfeldern ausmachen.

Sollten die – bisher erfolgreich geheim gehaltenen – ukrainischen Pläne in einen Vorstoß in Richtung der besetzten Stadt Melitopol und weiter bis an das Asowsche Meer münden, wie es vielen Beobachtern plausibel erscheint, drohen Kiews Armee an den mit mehreren Linien befestigten russischen Stellungen verlustreiche Kämpfe. Besonders an den strategisch wichtigen Zugängen zur Krim, aber auch rund um den wichtigen Flugplatz Berdjansk hat die russische Armee in den vergangenen Monaten ihre stärksten Befestigungswälle angelegt. Selbst wenn diese die – mit westlichem Gerät ausgerüstete – ukrainische Armee womöglich nicht zur Gänze aufhalten können, verschaffen sie Russland jedenfalls wertvolle Zeit. "Dass die Ukraine noch keine funktionierende Luftmacht hat, könnte hier zu großen Problemen führen", sagt Analyst Reisner.

Ukraine Flagge Rapsfeld
Je länger die Ukraine zuwartet, desto größer werden die Erwartungen im Westen, dass die Offensive gegen die russischen Besatzer auch erfolgreich wird.
IMAGO/NurPhoto

Auch deswegen muss die ukrainische Armee vor ihrem angekündigten Großeinsatz auf das Prinzip Tarnen und Täuschen setzen. "Wenn es gelingt, gleichzeitig an mehreren Punkten der Front anzugreifen und die russischen Reserven dort zu binden, etwa im Süden im Raum Cherson und nördlich bei Kupjansk, entsteht für die Russen ein unklares Lagebild, das es der ukrainischen Armee dann erlauben könnte, wiederum zwei Hauptstöße in Richtung Melitopol und Mariupol auszuführen", sagt Reisner. 

Defizite in Kiews Arsenalen

Doch hat die Ukraine überhaupt genügend Gerät, um Russlands Armee Entscheidendes entgegenzusetzen? Zwar dürfte es gelungen sein, mit westlicher Waffenhilfe zwölf Brigaden für eine Gegenoffensive aufzustellen und diese von dem Abnützungskrieg in Bachmut fernzuhalten. Von den 300 zugesagten Kampfpanzern – etwa die deutschen Leopard 2 – sind bisher aber nur knapp 100 eingetroffen, Schützenpanzer und andere Kampffahrzeugen etwa zur Hälfte. Reisner ortet weitere Defizite: "Es fehlt an Pioniergerät, etwa Minenräum- und Brückenlegepanzern, die es braucht, um die russischen Befestigungen zu überwinden."

Dazu kommt, dass die F-16-Kampfjets, um deren Lieferung Selenskyj rund um die Welt unablässig buhlt, frühestens in einigen Monaten in den Kampf eingreifen können – wenn überhaupt. Wartet die Ukraine deshalb noch zu mit ihrer Offensive? "Ich bin mir sicher, dass es in Kiew Stimmen gibt, die deshalb für eine weitere Verzögerung eintreten." Überdies lieferte das Wetter Argumente dafür, sich noch zu gedulden: Der Frühling in der Ukraine fiel heuer besonders regenreich aus, weite Teile des riesigen Landes sind noch verschlammt – kein guter Boden, um dort mit den schweren westlichen Kampfpanzern in den Angriff überzugehen.

Zeitfenster bis zum Herbst

Allzu viel Zeit dafür hat die Ukraine aber nicht, sagt der österreichische Militärstratege Walter Feichtinger vom Center für Strategische Analysen: "Es gibt jetzt ein gewisses Zeitfenster bis in den Herbst hinein, wenn die Regenfälle wieder einsetzen." Dass niemand weiß, wann und wo die Ukraine zuschlägt, ist derzeit Kiews größter taktischer Trumpf: "Russland wird genötigt, sich auf möglichst breiter Front auf den Angriff vorzubereiten und seine Kräfte zu binden."

Liegt es dann etwa doch an den bisher noch nicht in vollem Umfang gelieferten Waffen, die der Westen den ukrainischen Verteidigern zur Verfügung stellt? Die Ukraine sei jetzt durchaus schon in der Lage, eine Gegenoffensive zu führen, ist Feichtinger überzeugt. Allerdings: "Die Frage ist, ob diese auch in dem Umfang stattfinden kann, den die Ukraine sich selbst vorstellt." Für eine Rückeroberung des gesamten besetzten Territoriums, die stets als Ziel ausgegeben wird, fehlen vermutlich schlicht die Mittel.

Wolodymyr Selenskyj Telefon Auto Berlin Ukraine
Wolodymyr Selenskyj versucht, vor der Offensive noch möglichst langfristige Hilfszusagen seiner westlichen Partner zu erwirken.
AP/Christophe Gateau

Denkbar ist indes auch, dass Kiew damit zuwartet, offiziell den Beginn seiner Frühlingsoffensive zu verkünden, bis die ukrainische Armee erste Erfolge für sich verbuchen kann. Selenskyjs Reisediplomatie ist für Feichtinger schließlich auch ein Versuch, den politischen Druck zu mildern, der auf der Ukraine lastet: "Die Ukraine befindet sich im Lieferzwang. Sie muss zeigen, dass sie mit dem neuen Material einen möglichst großen Teil des besetzten Landes zurückerobern kann." Gelingt das nicht, bekämen jene im Westen Oberwasser, die die Waffenlieferungen nach Kiew immer schon kritisch beäugt haben – ein Horrorszenario für die Ukraine und ihren Kampf gegen die russische Invasion. (Florian Niederndorfer, 24.5.2023)