Alois Krichmayr, Ausstieg aus der Computerspielsucht
Er hat den Sprung zurück in die echte Welt geschafft: Mein Bruder Ali in seiner heutigen Wohnung in Linz.
Helena Lea Manhartsberger

Die Luft in dem kleinen Zimmer riecht abgestanden, nach Schweiß und kaltem Rauch. Das Fenster ist abgedunkelt, im schummrigen Licht flackern Kampfhandlungen über zwei Bildschirme. Futuristische Raumflotten bewegen sich durch Galaxien und Sternennebel, begleitet von Explosionen und undurchsichtigen Manövern. An den Rändern der Monitore rattern alle möglichen Infos und Chats herunter, begleitet vom stakkatoartigen Klackern der Tastatur und den englischen Kurzbefehlen, die mein Bruder in das Headset raunt.

Im Online-Multiplayer-Game "Eve Online" ist mein Bruder ein hochrangiger Flottenkommandant, der mit vier Accounts gleichzeitig bis zu 400 Mitspieler aus aller Welt dirigiert. In Wirklichkeit sitzt er eingehüllt in eine alte Decke auf einem knorrigen Stuhl in einem Zimmer in der Wohnung unserer Mutter nahe Linz. Die fettigen Haare hält er sich mit einem Haarreifen aus dem Gesicht, der Bart reicht schon bis zur Brust. Seine Augen sind glasig, er ist komplett fokussiert, nicht ansprechbar. So habe ich meinen Bruder oft gesehen, in seinen schlimmsten Phasen.

16 Stunden am Tag 

"Ich habe damals 16 Stunden am Tag gespielt", sagt Ali (niemand nennt ihn Alois). Zum Aufstehen aus dem absolut unergonomischen Sessel vor dem Computer bewegten ihn nur basale Bedürfnisse wie Toilettengang und Hunger. Zum Trinken standen immer einige Flaschen Wasser bereit. Die jahrelange Spielsucht zeigte deutliche Spuren: ständige Rücken- und Kopfschmerzen, ein Überbein an der Hand. "Wenn ich mich hinlegen wollte, hatte ich ein Klingeln in den Ohren, bekam Angstzustände, konnte nicht einschlafen." Er verließ das Zimmer nur, wenn er sicher sein konnte, nicht unserer Mutter zu begegnen. Blickkontakt oder gar Berührungen konnte er nicht aushalten.

Alois Krichmayr, Ausstieg aus der Computerspielsucht
Anstatt zu zocken, sieht sich mein Bruder lieber E-Sport-Streams an - zur Entspannung.
Helena Lea Manhartsberger

Gut zehn Jahre lebte Ali in einer Computerwelt, die immer mehr zu seinem Gefängnis wurde. Wiederum fast zehn Jahre ist es nun her, dass er den Sprung zurück geschafft hat.

Angefangen hat der Rückzug aus der Realität mit der Trennung unserer Eltern, von der er als gerade Elfjähriger komplett überrumpelt wurde. Von da an überfielen ihn immer wieder "Phasen der Traurigkeit", die er nicht einordnen konnte. Der Computerraum in der Schule eröffnete ihm eine "neue, aufregende Welt". Am eigenen Computer, den er bald darauf bekam, zockte er die ersten Nächte mit "Siedler II" durch. "Ich war eher ein Einzelgänger", sagt Ali. "Im virtuellen Dasein habe ich mich wohlgefühlt."

Immer höhere Levels

Heute sieht er Online-Games als potenzielles Suchtmittel. Die Belohnungen, die Anerkennung und der ständige Konkurrenzkampf treiben dazu an, immer höhere Levels zu erreichen. Das Prinzip ging auf: Mein Bruder schaffte es in sämtlichen gängigen Strategie- und Shooter-Games an die Spitze, während seine Schulleistungen den diametral entgegengesetzten Weg nahmen. Erst musste er eine Klasse wiederholen, dann schmiss er die Schule ganz hin. Später konnte er sich noch zu einer Lehre als Informatiker aufraffen.

Es waren Jahre des Rangelns mit sich selbst und unserer Mutter. Sie nahm Modemkabel und Tastatur weg, er besorgte sich neue. Um Geld zu sparen, trimmte er den Rechner zu Höchstleistungen, crackte Spiele. Später erwirtschaftete er genug In-Game-Geld, um es gegen Gratis-Spielzeit tauschen zu können. Dazwischen immer öfter: Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, ein immer härteres Aufschlagen in der Realität – was die Flucht in die digitale Welt umso verlockender, ja notwendiger machte.

Alois Krichmayr, Ausstieg aus der Computerspielsucht
Über Jahre hinweg ging Ali immer mehr in der digitalen Welt auf, während die Realität immer unerträglicher wurde.
Helena Lea Manhartsberger

Mit etwa 20, während des Zivildienstes beim Roten Kreuz, wird es immer enger. Ali meldet sich krank, spielt vier Monate "World of Warcraft". So erfolgreich, dass er seinen Account um 400 Euro verkauft – die Übergabe von Lizenz und Passwort ging filmreif auf einem Parkplatz über die Bühne.

Verschwommene Zeit

Das WG-Zimmer, das er kurzzeitig bezogen hat, kann er sich nicht mehr leisten, der Wiedereinzug bei der Mutter führt zu einem neuerlichen Tiefpunkt. Der Hausarzt diagnostiziert: Depression. Es folgen ein paar Wochen in einer psychiatrischen Tagesklinik und einige Versuche, einen Job oder eine Ausbildung anzufangen. Nichts ist von Dauer, nur die Spielsucht ist ungebrochen.

"Die Zeit verschwimmt massiv", sagt Ali über die Jahre, in denen er sein Zimmer kaum noch verlässt. "Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war, habe nichts mehr gespürt." Er isoliert sich sogar innerhalb der virtuellen Welt, redet auch dort mit niemandem mehr. Schließlich macht auch das Zocken keinen Spaß mehr, und er verfällt in so etwas wie ein Burnout.

Irgendwann, als wir nach vielen Hilfeversuchen meinen Bruder schon so gut wie aufgegeben haben, schafft er es in die Ambulanz für Spielsucht des Kepler-Universitätsklinikums in Linz. Das ist der Wendepunkt.

Bei null anfangen

"Ich bin sehr dankbar, dass ich die Chance hatte, drei Jahre Psychotherapie auf Krankenkasse machen zu können", sagt Ali. "Das war meine Rettung." Geholfen habe ihm auch, dass er nicht sofort spielabstinent werden musste. Dafür geht er jeden Tag eine Stunde in den Wald. Mithilfe von Antidepressiva bekommt er langsam wieder Antrieb und Energie. "So konnte ich die Festung, die ich so lange um mich hochgezogen hatte, Stück für Stück wieder abtragen", sagt er.

Alois Krichmayr, Ausstieg aus der Computerspielsucht
"Ich musste wieder lernen, wie das Leben funktioniert", sagt Ali.
Helena Lea Manhartsberger

In vielen kleinen Schritten lernt er, Verantwortung für sein Leben zu übernehmen, die negativen Gefühle zu verarbeiten und wieder menschliche Kontakte zu knüpfen. "Ich habe akzeptiert, dass ich bei null anfangen muss. Ich musste wieder lernen, wie das Leben funktioniert."

Parallel dazu wird das Zocken immer uninteressanter, bis er es richtig langweilig findet. 2014, mit 30 Jahren, bekommt Ali in der Firma von Verwandten die Gelegenheit, auszuhelfen und sein eigenes Geld zu verdienen. Von da an geht es praktisch raketenmäßig bergauf. Er arbeitet seitdem, holte die Matura nach. Jetzt ist er 38 Jahre alt, lebt mit seiner Freundin und seinem kleinen Sohn in Linz und hat sich vor kurzem als Web-Entwickler selbstständig gemacht.

Angst vor einem Rückfall hat er nicht: "Ich habe für drei Lebenszeiten gezockt." Er rät Angehörigen, sich nicht in den Abgrund der Spielsüchtigen hineinziehen zu lassen, sondern klare Grenzen zu setzen. "Die Möglichkeiten, von außen Hilfe zu leisten, sind sehr eingeschränkt. Der erste Schritt muss von innen kommen, sonst ist es nicht nachhaltig." Es ist eine Krankheit, die viele betrifft, und es gibt Hilfe. Mein Bruder kann es heute positiv sehen: "Eine schwierigere Aufgabe werde ich vermutlich nicht mehr zu bewältigen haben." (Karin Krichmayr, 31.5.2023)