Groß war die Hoffnung im türkischen Oppositionslager, Recep Tayyip Erdoğan nach 20 Jahren an der Macht zu stürzen. Die Parteien hatten sich verbündet, und der gemeinsame Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu lag in den Umfragen voran. Doch im ersten Wahldurchgang dann die Überraschung: Der Amtsinhaber kratzte an der 50-Prozent-Marke und damit am sofortigen Wahlsieg, während Kılıçdaroğlu mit knapp 45 Prozent enttäuschte. Angesichts dieser Ausgangslage waren die Aussichten für die Opposition düster, und so kam es am Sonntag schließlich auch: Erdoğan sicherte sich in der Stichwahl eine weitere Amtszeit als Präsident der Türkei. Was heißt das für das Land, wie könnte es weitergehen? DER STANDARD wagt einen Blick in die Zukunft. 

Erdogan Wiederwahl Wahlauftritt
Vor der Verlängerung der Amtszeit von Recep Tayyip Erdoğan werden wohl viele junge Türkinnen und Türken fliehen.
via REUTERS

Frage: Was könnte sich innenpolitisch ändern?

Antwort: Erdoğans Kritikerinnen und Kritiker im Land befürchten, dass der Präsident noch autoritärer regieren und noch schärfer gegen seine Gegner im Land vorgehen wird. Seine Partner aus dem islamistischen und ultranationalistischen Lager hatten dies bereits im Wahlkampf angekündigt.  

Ende April wurden Razzien und Hausdurchsuchungen in 21 türkischen Provinzen durchgeführt. Dabei wurden mehr als 100 Personen festgenommen, darunter hochrangige Politiker der kurdischen Oppositionspartei HDP. Das kann man auch als eine Art Vorgeschmack auf die Zukunft interpretieren. 

Frage: Wie reagiert man im Oppositionslager auf die Niederlage?

Antwort: Forscher gehen davon aus, dass viele Menschen auswandern werden, vor allem junge mit guter Ausbildung, die keine Zukunft mehr in einem weiterhin von Erdoğan geführten Land sehen. Medienberichten zufolge haben viele bereits Fluchtpläne in der Tasche. 

Laut einer Umfrage des Instituts Metro Poll im letzten Jahr träumen zwei Drittel der befragten Türkinnen und Türken zwischen 18 und 34 Jahren von einem Leben im Ausland. Auch der deutsche Grünen-Politiker Cem Özdemir, der türkische Wurzeln hat, geht nun von einer Auswanderungswelle aus. 

Frage: Welche wirtschaftlichen Konsequenzen könnte es geben?

Antwort: Schon nach Erdoğans Sieg im ersten Durchgang ist die Börse in Istanbul eingebrochen. Investoren hatten gehofft, dass ein Wahlsieger Kılıçdaroğlu zu einer geordneten Wirtschaftspolitik zurückkehren würde. Nun gehen Experten davon aus, dass sich die Wirtschaftskrise im Land weiter verstärken wird.

Um die Wahl zu gewinnen, hat Erdoğan teure Versprechen abgegeben: Unter anderem will er die Pensionen und Löhne jährlich über das Inflationsniveau hinaus anheben. Die Inflationsrate liegt derzeit bei rund 43 Prozent, die will er wieder in den einstelligen Bereich bringen. Allerdings sind die Staatskassen leer. Um seine Wahlversprechen einzuhalten, müsste er noch mehr Geld drucken lassen, als er es bereits jetzt tut, und das würde die Inflation weiter befeuern. Dann, so die schlimmsten Befürchtungen, könnte es sogar zu Hungeraufständen kommen, die vom Regime niedergeschlagen würden.

Frage: Was würde Erdoğan außenpolitisch machen?

Antwort: Schlägt er tatsächlich einen noch autoritäreren und nationalistischeren Kurs ein, wird dies auch die Beziehungen zum Westen belasten. Schon vor der Wahl hatte sich das Verhältnis zu Europa – Stichwort Nato-Beitritt Schwedens – und zu den USA sukzessive verschlechtert. Einen Tag vor dem ersten Durchgang hat Erdoğan bei einer Kundgebung in Istanbul gesagt: "Biden hat den Befehl gegeben, Erdoğan zu stürzen, das weiß ich. Alle meine Leute wissen das."  

Mit der weiteren Distanzierung vom Westen wird erwartet, dass sich Erdoğan endgültig China und Russland zuwenden wird. Wie sich das alles auf seine mitunter doch erfolgreiche Rolle als Vermittler im Ukrainekrieg auswirken könnte, ist noch schwer zu sagen. (Kim Son Hoang, 29.5.2023)