Mit seinem Debütroman "Shuggie Bain" gewann der schottische Schriftsteller Douglas Stuart den renommierten Booker Prize. Das Buch wurde mehr als eine Million Mal verkauft und wird gerade von der BBC verfilmt. Als sein jüngster Roman "Young Mungo" erschien, nannte Nicola Sturgeon, damals First Minister von Schottland, ihn einen der Großen der schottischen Literatur.

Douglas Stuart, Booker-Prize-Träger.
EPA

STANDARD: Mister Stuart, Sie sind momentan der erfolgreichste Vertreter schottischer Literatur. Wie unterscheidet sie sich von der britischen?

Stuart: Die schottische Erfahrung findet innerhalb des Vereinigten Königreichs oft nur einen Platz am Rand. Das Verlagswesen konzentriert sich auf London, Stimmen aus der englischen Mittelschicht übertönen uns. Wir fühlen uns weit weg vom kulturellen Geschehen des Landes. Ich erzähle von Umwälzungen in der Arbeiterklasse, aber aus einer schwulen oder weiblichen Perspektive. Die meisten Stimmen, die wir vernehmen, gehören heterosexuellen Männern.

STANDARD: In Ihren Romanen beschreiben Sie ein Glasgow der 1980er- und 1990er-Jahre, das verfallen und verroht ist.

Stuart: Das East End, aus dem ich stamme, war so. Ich will den Lesern vermitteln, wie klein die Welt sein kann, wenn es in einem Sozialbauviertel an Aufstiegschancen fehlt und Armut keine Mobilität zulässt. Glasgow ist eine kosmopolitische Stadt mit einer der ältesten Universitäten der Welt und einer lebendigen Kulturlandschaft. Nur hatte ich nie Zugang dazu, obwohl ich höchstens zwei oder drei Kilometer entfernt lebte. Warum sollte ich dorthin gehen? Wer würde mich in den besseren Teil der Stadt einladen? Gehörte ich überhaupt dazu?

STANDARD: Was hat die Zukunft einem jungen Mann wie Ihnen Anfang der 1990er-Jahre geboten?

Stuart: Wir wurden in einen Zynismus hineingeboren. Meine Generation hat erlebt, wie Fabriken geschlossen wurden, dass monatelange Streiks nichts gebracht haben. Unsere Eltern kannten noch das Gefühl, dass sie sich auf ihre Arbeitskraft verlassen und einen Job finden konnten. Für uns gab es keine Zukunft mehr in der Stahlindustrie, die Werften waren verloren, die Maschinen standen still. Das war ein Wendepunkt für junge Menschen aus der Arbeiterklasse.

STANDARD: Sie erzählen, wie sich junge Männer in Gangs organisierten, die entweder protestantisch oder katholisch waren. Welche Rolle spielte die Religion?

Stuart: Sie war eine Möglichkeit, sich wie in Stämmen miteinander zu verbünden. Oft in Zusammenhang mit der Leidenschaft für einen Fußballklub. Als ich ein Teenager war, nahm die traditionell protestantische Mannschaft, die Glasgow Rangers, zum ersten Mal einen Celtic-Spieler auf, also einen Katholiken. Ich erinnere mich an die Kontroverse darüber. Die Männer fluchten: Sie haben jemanden ohne Glauben eingestellt!

STANDARD: Obwohl beide christlich sind.

Stuart: Da sehen Sie selbst, wie willkürlich und sinnlos diese Unterteilung war. Das entspricht einem uralten Wunsch junger Männer, sich in Verbänden gegen andere zu organisieren. Das geht zurück bis in die Antike, als sich griechische Krieger gegen die Städte auf der anderen Seite der Brücke gewehrt und um Gebietsansprüche gekämpft haben. Manchmal brauchen Menschen das Gefühl, zu einem Clan zu gehören, einen gemeinsamen Feind für den Zusammenhalt zu haben.

2020 gewann Douglas Stuart den begehrten Booker Prize für seinen Roman "Shuggie Bain".
Benedict Evans/Guardian/eyevine

STANDARD: Ihre Helden entfliehen diesem Alltag, indem Sie einen Taubenschlag pflegen.

Stuart: In meinem Viertel gab es weder private Gärten noch Hinterhöfe, aber auf kommunalem Land hatten Züchter diese Verschläge errichtet, oft nahe an Bahngeleisen oder unter Bäumen versteckt, damit sie nicht zu stark auffielen und von Vandalen zerstört wurden. Sie standen frei zugänglich im Gelände, die Taubenzüchter befestigten sie stark, manchmal mit fünf Vorhängeschlössern und ohne Fenster. Als Kind war ich eingeschüchtert und fasziniert von diesen Schuppen, weil sie so einsam und gruselig aussahen.

STANDARD: Im Teenageralter entdeckten Sie, dass Sie sich zu anderen Burschen hingezogen fühlten. Wie lernten Sie welche kennen in dieser toxischen Atmosphäre?

Stuart: Über Kontaktanzeigen in Teenie-Zeitschriften wie Sky Magazine. Vorn waren brave Coverfotos von Brad Pitt oder Michelle Pfeiffer drauf, hinten standen Annoncen für Brieffreundschaften drin. Lange habe ich im ganzen Land mit anderen queeren Jugendlichen geschrieben. Das war mein emotionales Ventil. Wir tauschten unsere Erfahrungen, Enttäuschungen und Hoffnungen aus, schrieben uns, was wir in den Charts gut fanden, oder welche Filme wir gesehen hatten. Ungefähr mit 17 ging ich zum ersten Mal in eine Schwulenbar. Ein schmuddeliger, fensterloser Keller in Glasgow – voller Männer, die sich selbst hassten. Ich habe schnell gemerkt, dass mir dieser Ort nicht gab, was ich suchte. Ich brauchte emotionale Unterstützung und eine freundschaftliche Beziehung, diese Männer wollten von einem 17-Jährigen nur Sex.

STANDARD: Wie tolerant war Anfang der 1990er-Jahre die Gesellschaft um Sie herum?

Stuart: Ich habe diese Epoche für den Roman gewählt, weil sie die letzte dunkle Periode vor der Morgendämmerung war. Die Gesellschaft war gegenüber queeren Menschen nicht tolerant, weder in Glasgow noch sonst wo in der Welt. Erst fünf oder sechs Jahre später fand der erste Pride-Marsch in Schottland statt – eine kleine Demonstration in Edinburgh. Die Aids-Krise erreichte ihren Höhepunkt, die Hysterie in den Medien war groß. Zur gleichen Zeit verabschiedete die Thatcher-Regierung die Clause 28, ein Gesetz, das Kommunen und Schulen untersagte, Homosexualität zu fördern ...

STANDARD: ... und faktisch dazu führte, dass in Medien negativ über Schwule und Lesben berichtet wurde. Erst 2003 wurde es von Tony Blair abgeschafft.

Stuart: Heteros durften ab 18 Jahren einvernehmlichen Geschlechtsverkehr haben, bei Homosexuellen lag das Mindestalter bei 21. Junge queere Männer konnten sich nicht vorstellen, ein langes, glückliches und liebevolles Leben zu führen. Es war eine Zeit enormer Einsamkeit.

STANDARD: Welche Bedeutung hatte es für Sie, mit diesem Gesetz aufzuwachsen?

Stuart: Ich war zwölf Jahre alt, als es von höchster Regierungsebene hieß: Queere Menschen sind ein Problem, sie haben keinen sicheren Platz mehr in unseren Sozialsystemen. Dadurch wurde Homophobie legitimiert. Ich war mir zu der Zeit bereits dessen bewusst, zu wem ich mich hingezogen fühlte, und habe versucht, mich zu ändern, mich anzupassen. Bin mit Straßengangs mitgelaufen, um einen Platz in der Männergemeinschaft zu finden und bloß nicht aufzufallen. Dabei habe ich Sachen getan, die ich heute bereue. Freizeitvandalismus war an der Tagesordnung, gemeinsame Überfälle auf Bauhöfe, wie ich sie auch im Buch schildere. Das Gesetz hat mich zurück in die Dunkelheit katapultiert.

STANDARD: In Ihren beiden Romanen kommt Margaret Thatcher nicht gut weg. Was hat sie Schottland angetan?

Stuart: Oh, sie hat dem Land enormen Schaden zugefügt. Zuallererst sozialökonomisch, weil in ihrer Regierungszeit die Industrie zusammengebrochen ist – und man nicht den Eindruck hatte, dass sie das schlimm fand. Die Arbeitslosigkeit im Osten von Glasgow stieg auf mehr als 20 Prozent. Es gab keine Hoffnung mehr, kein Morgen, keinen besseren Tag. Die Drogensucht explodierte. Die Zeiten waren so verheerend, dass sich die Lebenserwartung von Männern um zehn Jahre verkürzte – das nannte man den Glasgow-Effekt. Hinzu kommt eine psychologische Komponente. Glasgow war als die zweite Stadt des Empire bekannt, hunderte Jahre lange wurden hier Schiffe gebaut, es wurde gehandelt und Stahl verarbeitet. Plötzlich, innerhalb eines Jahrzehnts, verkündete die Regierung: Wir wollen das nicht mehr, ihr steht dem Fortschritt Großbritanniens im Weg.

STANDARD: Hat Boris Johnson später die Rolle des Bösewichts übernommen?

Stuart: Dafür war er zu inkompetent.

STANDARD: Johnson musste sich mit dem Begehren nach schottischer Unabhängigkeit auseinandersetzen. Die im Februar zurückgetretene Nicola Sturgeon hat lange für ein zweites Referendum gekämpft.

STANDARD: Warum ist das heutzutage noch wichtig?

Stuart: Weil die Menschen ihr Recht einfordern, von einer Regierung fair vertreten zu werden. Der Brexit ist ein gutes Beispiel dafür. Der größte Teil Schottlands hat mit 62 Prozent dafür gestimmt, in der Europäischen Union zu verbleiben. Ich denke, das ist völlig gerecht, anzunehmen, dass die schottische Zukunft in der EU damit noch nicht zu Ende ist.

STANDARD: Andererseits stimmte 2014 beim ersten Unabhängigkeitsreferendum eine Mehrheit dafür, in Großbritannien zu verbleiben.

Stuart: Aber es war keine erdrückende Mehrheit. Sie lag bei 55 Prozent.

STANDARD: Wünschen Sie sich ein unabhängiges Schottland?

Stuart: Darüber möchte ich mich nicht äußern. Weil ich in New York lebe und es für wohlfeil halte, von hier Ratschläge zu geben.

STANDARD: Anders gefragt: Als was fühlen Sie sich?

Stuart: Ich lebe seit 20 Jahren in den USA, habe einen britischen Pass, würde mich aber immer als stolzen Schotten bezeichnen.

STANDARD: Ihrer Heimat sind Sie auch durch die Sprache verbunden. Sie schreiben im schottischen Dialekt. Obwohl Ihre Mutter früher darauf bestanden hat, dass Sie zu Hause das Queen's English sprechen.

Stuart: Ihr ging es allgemein um regionale Akzente. Kinder in Birmingham, Sheffield oder Newcastle führten sicherlich dasselbe Gespräch mit ihren Eltern. Wenn man zu sehr nach Arbeiterklasse klang, schränkte das die Zukunftschancen ein. Im Vereinigten Königreich spricht man Received Pronunciation, das Standard-Englisch im Fernsehen, auf der Bühne, in der Politik. Meine Mutter war sich darüber im Klaren, dass eine richtige Aussprache mir ermöglichen würde, im Leben voranzukommen.

STANDARD: Was finden Sie am besten am Schottischen?

Stuart: Die schiere Erfindungsgabe. Die Sprache ist auf eine poetische Weise ausdrucksstark, sie stammt nicht aus Büchern, sondern wurde über Generationen mündlich weitergegeben. Das macht sie sehr lebendig. Ich liebe es, wie charmant sogar Beleidigungen klingen können.

STANDARD: Zum Beispiel?

Stuart: Ye've a face like a melted wellie. Du hast ein Gesicht wie ein geschmolzener Gummistiefel. Was bedeutet: Wieso siehst du immer so unglücklich aus? Wenn man möchte, dass jemand verschwindet: Awa' an bile yer heid. Hau ab und koch deinen Kopf!

STANDARD: Gibt es ein schottisches Wort, das sich für Sie sofort nach Heimat anhört?

Stuart: Mein Lieblingswort ist gallus. Es beschreibt ein Gefühl von echtem Selbstvertrauen, fast Überheblichkeit, aber gepaart mit Mut. Eine Person kann gallus sein, aber auch ein Paar Stiefel, das fantastisch aussieht.

STANDARD: Wenn Sie jetzt in die Stadt zurückkehren, wie erleben Sie Glasgow?

Stuart: Glasgow ist eine warmherzige Stadt, ich spüre nichts von der Kälte Londons oder New Yorks. Vor kurzem wurde sie zum neuntbesten Ort auf der Welt gekürt, in dem man queer sein kann. Darüber freue ich mich aufrichtig.

STANDARD: Macht es Sie traurig, dass Sie das nicht erleben durften?

Stuart: Ich neide den Jungen nicht ihr Glück, ich möchte ihnen jedoch erzählen, welche Schwierigkeiten auf dem Weg lagen. Die Community darf ihre Geschichte nicht vergessen, nur weil sie schmerzhaft ist. Heute stehen queere Autoren etwas unter Druck, von einem inklusiven Spektrum zu erzählen und optimistische Geschichten zu schreiben. Wir rechnen nicht mit dem Schmerz unserer Vergangenheit ab, weil wir zu beschäftigt damit sind, in eine goldene Zukunft aufzubrechen. (RONDO, Ulf Lippitz, 25.5.2023)

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