You are beautiful“, steht in Schreibschrift auf dem Spiegel im Hotelflur und ebenso: "Mama loves you!" Genau, Mama. Jener Mensch also, der dich immer gut findet und stets liebhat. Gefühlvoll massiert von diesen Seelenschmeichlern und Sinnsprüchen rauscht der Gast im Lift nach unten. Um nach Verlassen des Aufzugs erst mal über ein paar Kids zu stolpern, die auf dem Hotelboden fläzen und ein Ausmalposter vollkritzeln. Alles wie daheim im Wohnzimmer, irgendwie. Auch Lobby und Restaurant kommen nicht als "öffentlicher Raum" daher, sondern wirken wie Mamis gute Stube, dafür sorgen Dekokissen, Musterteppiche und befranste Lampenschirme, alles dicht an dicht. Jedem Setdesigner für opulente Ausstattungsfilme würden hier angesichts des überreichen Fundus Herz und Augen aufgehen.

2008 wurde das erste Mama-Shelter-Haus in Paris eröffnet, inzwischen gibt es rund 20 "Mamas" auf diversen Kontinenten und weitere in Planung. Wie alle Mama-Shelter-Hotels positioniert sich auch die britische Filiale gemäß Unternehmensstrategie nicht im Nobelviertel, sondern in belebteren Mittelklassestadtteilen – das heißt bezüglich London: an der langen Hackney Road im East End, einem quirlig-vibrierenden Multikulti-Meltingpot.

Familienbetrieb

Hier sitzt Hotelinhaber Serge Trigano, Jahrgang 1946, an der Hotelbudel, während seine deutsche Ehefrau Gisela, eine gelernte Dekorateurin aus Bamberg, ein paar Meter weiter die Enkel beaufsichtigt. Family Affairs. Serge lernte Gisela einst in einer Club-Méd-Destination kennen, Vater Gilbert Trigano leitete nämlich die Ferienclubs als Geschäftsführer, bis Sohn Serge 1993 als Leiter übernahm. Auch die Söhne Jérémie und Benjamin arbeiten mit im Familienbetrieb.

Mamas Shelter
Wimmelbild und Wohlfühlchaos sind nur zwei der Leitmotive der rund 20 Häuser.
Francis Amland/Mama Shelter

In seiner Zeit bei Club Méd lernte Serge Trigano den Designer Philippe Starck kennen. Weil man "mal was zusammen machen wollte", entwickelten die beiden das Mama-Shelter-Konzept. Der Clubgedanke, das Zugehörigkeitsgefühl, das Socialising, das sind alles Zutaten, die Trigano für sein neues Konzept übernahm. "Ein Shelter ist ein sicherer Ort", erklärt Serge die Philosophie. Und bei Mama ist immer was los: Musikrhythmen durchschallen den Raum, in einer Ecke steht ein Tischfußballtisch, gleich daneben die Bühne für Live-Auftritte, die offene Showküche präsentiert das Geschehen am Herd, und auf den Flatscreens flimmern kuratierte Filmclips aus der Hollywood-Ära oder Trickfilm-Cartoons – ununterbrochen. Es geht eben zu wie in südländischen Großfamilien: Einer lacht, einer weint, und Opa starrt den ganzen Tag in die Glotze, die extralaut durch die Wohnung schallt, denn er hört ja schlecht.

Dazu das visuell überbordende Interieur mit Regalen voller Nippes und Grünpflanzen, mit Mustern, Strukturen, Ethno- und Retro-Anklängen. Das Auge wird hier einfach nicht fertig mit Schauen. Wer sich im Restaurant dann doch sattgesehen und auch sattgegessen hat, kann in den Kellerräumen beim Karaoke loslegen.

Konkurrenz

"Chaos gehört hier zum Konzept", sagt Serge. Weil er denkt, dass das 21. Jahrhundert reisetechnisch der Stadt und nicht dem Strand gehört, hat er sein Konzept an den Metropolen dieser Welt ausgerichtet, Rio und Belgrad, Los Angeles, Marseille und Prag: "Mama Shelter gehört in jene Viertel, wo das Leben tobt." Und das Mamadings, wie ist das genau entstanden? "Airbnb ist ja zur großen Konkurrenz von Hotels geworden", beobachtete Serge. Der Gedanke scheint logisch: Wenn sich der "homo travellensis" so gerne bei fremden Leuten auf die Couch setzt, kann man genauso gut Hotels danach ausrichten. Weg mit international-neutraler Gesichtslosigkeit! Die Idee kam an, die Marke expandierte. 2014 stieg der Hotelriese Accor ein – und Philippe Starck wieder aus, denn er befürchtete, dass das originelle Konzept durch die Großbeteiligung an Profilschärfe verlieren könnte. "Dem war aber nicht so", sagt Serge. Ein gestalterisches Leitmotiv für alle Häuser ist die je nach Land unterschiedlich interpretierte, detailreiche Raumdecke mit ihren bunten Motiven, Graffiti und Sprüchen.

Wilde Deko
Schlicht sieht anders aus. Wer auf Nippes steht, dürfte sich allerdings bei Mama Shelter sehr wohlfühlen.
Francis Amland/Mama Shelter

Auch das Inventar des Interieurs nimmt Bezug auf örtliche Traditionen – hier in London orientiert sich der Style-Kosmos am englischen Cottage mit seinen plüschigen Kissen und Sofas, an Karomustern und Blumenstoffen.

Wohnzimmer

Wenn sich das Auge dann doch noch ans stilistische Wimmelbild zum Beispiel im Restaurant gewöhnt hat, erscheint prompt ein – organisierter – Profizauberer zum Abendessen, der Flaschen verschwinden und Geldscheine aus Zitronen hervorpoppen lässt. Und somit Hirn und Wahrnehmung vollends in die Irre schickt. Der Magier, all die Muster, die immerzu laufenden Flimmerkisten, alles zusammen ein durchkomponierter Budenzauber, der einen in Atem hält. Mancher Stilpurist oder Fan von klösterlicher Strenge mag eine solche Mixtur als Ohrfeige mitten ins feine Gemüt empfinden. Doch ganz ehrlich: Wer einen ganzen Tag meilenlang durch den Londoner Regen marschiert ist, freut sich am Ende auf den großen, pechschwarz gestrichenen Mama-Shelter-Block an der Hackney Road mit seinem prasselnden Feuer in der Lobby.

Bleibt noch eine drängende Frage an Monsieur Trigano – Hand aufs Herz: "Sieht es in Ihrem Wohnzimmer zu Hause auch aus wie bei manchen unterm Sofa? Wie leben Sie eigentlich?" Da muss der Hotelier grinsen. Schnell springt Ehefrau Gisela ein und sagt diplomatisch: "Nein, wir wohnen etwas anders, aber auch mit vielen Farben und starken Akzenten." (RONDO, Franziska Horn, 26.5.2023)