Halle Bailey als Arielle
Folgen einer Kurskorrektur: Inmitten der allgegenwärtigen Nostalgieprofilierung darf Arielle (Halle Bailey) ihr Besteck vornehmlich königlich gebrauchen.
2023 Disney Enterprises, Inc.

"Sie sieht aus wie ich!" Kommentare wie dieser gingen im September 2022 auf Social Media viral, als junge afroamerikanische Mädchen zum ersten Mal den Trailer für die Live-Action-Adaption von Arielle, die Meerjungfrau sahen. Die roten Haare waren noch da. Aber statt einer weißen, blauäugigen Nixe sang Halle Bailey, eine Afroamerikanerin, davon, wie gern sie doch ein Mensch wäre. Eine schwarze Disney-Prinzessin – das hatte es bisher erst zweimal gegeben. 1997, als Sängerin Brandy für einen TV-Film in die Rolle der Cinderella schlüpfte, und 2009, im Animationsfilm Küss den Frosch.

Bailey zeigte sich gerührt von den Videos. Der Aufschrei war jedoch erwartungsgemäß groß. Eine schwarze Meerjungfrau in einer Geschichte des weißen Dänen Hans Christian Andersen? Das gehe doch nicht. Disney versuche hier bloß wieder, ein paar Punkte mit der "woken" Masse zu verdienen. Ein inflationärer Begriff, wie US-Filmjournalist Scott Mendelson meint. Er bezeichnet in den USA inzwischen alles, "das kein weißer Mann ist".

Dabei gibt es durchaus Kritikpotenzial im Hinblick auf die Realverfilmungen. Als Disney sich entschied, ob der eine Milliarde Dollar Einspielergebnis von Alice im Wunderland 2010 quasi alle animierten Klassiker neu zu verfilmen, musste es auch einen Grund finden, warum es einer neuen Version dieser Geschichte bedarf. Ein Remake muss immer eine neue Idee hinzufügen, lautet eine Faustregel. Disney beschloss, eine Art Kurskorrektur an Inhalten zu betreiben, die aus heutiger Sicht altmodisch und überholt wirken.

Allerlei Progressives

Da wäre die Darstellung von Frauen, die alle nur passiv auf ihren Prinzen warten, statt ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Belle wurde in Die Schöne und das Biest somit zur Erfinderin und versuchte mehrmals, vor dem Biest zu flüchten. Hyäne Shenzi wurde in Der König der Löwen zur brutalen Anführerin ihres Rudels. Und selbst Aladdins Prinzessin Jasmin, die im Original wohl kaum einer als auf den Mund gefallen bezeichnen würde, wurde eine Ballade mit dem Namen Speechless aufgedrängt, nur um aber dann genau das zu sein.

Disney Deutschland

Unabsichtliche Regressivität durch erzwungene Progressivität. Der Versuch, weibliche Emanzipation sensationsheischend zu verpacken und andere Themen wie die eigene rassistische Geschichte wegzulassen, änderte die DNA der Vorlagen. So fabuliert Dumbo von einer Welt frei von Tierquälerei, setzt sich aber nicht mit den stereotypen Raben der Vorlage auseinander, von denen einer tatsächlich den Namen Jim Crow trägt. Rassismus existiert in dieser neuen perfekten Welt von Disney nicht. Und wenn, ist er nicht systematisch, sondern ein Problem mit Individuen.

Moderne Linse

Bei einer Geschichte wie Arielle, die Meerjungfrau, in der die Protagonistin alles aufgibt, um einem Mann zu folgen, war die Erwartung natürlich besonders hoch, wie Disney das durch eine moderne Linse quetschen könnte. Eine nicht-hetero-normative Leseweise, wie dass Die kleine Meerjungfrau für den vermutlich queeren Andersen ein Weg war, einem Mann seine Liebe zu gestehen, oder eine Anerkennung, dass die Meerhexe Ursula im Animationsfilm von der Dragqueen Divine inspiriert war, darf man sich nicht erwarten.

Doch indem Disney das Casting weiter ausbreitet und auch People of Colour eine Chance bietet, trägt es einen wichtigen Schritt zur Normalisierung bei. Es mag sein, dass hier ein Kalkül dahintersteckt. Aber in einer Pop-Welt, die von Nostalgieprofilierung getrieben wird, gibt es oft keine andere Möglichkeit mehr, Diversität voranzutreiben.

Halle Bailey als Arielle
Sehnsüchtig, aus ihrer Welt auszubrechen: Halle Bailey als Arielle.
DISNEY

Dass wir überhaupt über diverse Castings sprechen, liegt an einer kleinen Gruppe im Internet, die sich dagegen auflehnt. "Die Kindheit ist ruiniert" ist zu einem effektiven Kampfbegriff geworden. Die Einspielzahlen hingegen haben stets eine andere Sprache gesprochen, wie Mendelson betont. Das von einer weißen Frau und zwei People of Colour angeführte Star Wars: The Force Awakens spielte 2015 weltweit zwei Milliarden Dollar ein. Black Panther 2018 über eine Milliarde. Spider-Man: Across the Spider-Verse, mit dem Afro-Latino Miles Morales als Spider-Man, wird einer der erfolgreichsten Filme des Jahres.

Klinisch sauber

Dass die neue Arielle, die Meerjungfrau nicht auf ganzer Linie überzeugen kann, liegt nicht an der Hautfarbe der exzellenten Hauptdarstellerin. Die wird in dieser klinisch sauberen Disney-Welt nicht einmal thematisiert. Das progressive Update ist die Spiegelung der Figuren Arielle und Prinz Eric. Rastlose Seelen, die in ihren royalen Welten gefangen sind und ausbrechen wollen.

Wild Uncharted Waters, wilde unerforschte Gewässer, heißt das neue Lied, das Eric singen darf, um seine Charaktermotivation darzulegen. Zudem gelingt es Regisseur Rob Marshall, in der Umsetzung neue visuelle Ideen hineinzupacken. Dennoch sucht auch diese Realverfilmung etwas zu zwanghaft nach ihrer Existenzberechtigung, trotz Inklusion und Diversität. (Susanne Gottlieb, 25.5.2023)