Lange vor der Veröffentlichung der Statistik steht die Immigration im Mittelpunkt der britischen Politik. Weil die Netto-Einwanderung eine neue Rekordmarke von mehr als 700.000 Menschen erreicht hat, versucht Premier Rishi Sunak verzweifelt, dem Eindruck entgegenzusteuern, er habe die Kontrolle über die Grenzen verloren. Die konservative Regierungspartei habe "wieder und wieder weniger Einwanderung versprochen und alle Versprechen gebrochen", höhnt Labour-Oppositionschef Keir Starmer.

Offiziell publiziert das Statistikamt ONS am Donnerstag die Jahreszahlen; Fachleute haben aber keine Zweifel, dass die Marke vom Vorjahr (534.000) deutlich übertroffen wurde. Der konservative Thinktank CPS spricht von mehr als 700.000, anderen Prognosen zufolge könnte es knapp eine Million sein.

Für die Konservativen ist das Thema hochbrisant. Nach dem Finanzcrash und der Wirtschaftskrise 2008 schnellte das Thema Einwanderung in der Prioritätenliste der Bevölkerung nach oben. Tory-Premier David Cameron versprach daher, die Netto-Immigration, also Neuankömmlinge minus Abwandernde, auf unter 100.000 pro Jahr zu drücken. Dass dies nicht einmal annähernd gelang, trug 2016 zur knappen Brexit-Entscheidung bei: Populisten hatten suggeriert, durch die EU-Freizügigkeit stünden der Insel Millionen von Türken ins Haus.

Lüge der Brexiteers

Das Königreich habe die Autonomie über die eigenen Grenzen "wiedererlangt", geben die Brexiteers gern als Erfolg an – umso schwerer wiegt der Kontrast mit stetig steigenden Einwandererzahlen. Sunak und seine nationalistische Innenministerin Suella Braverman, beide von Einwanderern abstammend, machten vor allem mit restriktiver Asylpolitik von sich reden. Diese richtet sich gegen zehntausende überwiegend junge Männer, die in Schlauchbooten über den Ärmelkanal kamen. In meist jahrelangen Asylverfahren werden die Migranten aus Afghanistan, Sudan oder Syrien zu mehr als zwei Dritteln anerkannt.

Innenministerin Suella Braverman, Frontfrau der Rechten.
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Dem wollen die Tories einen Riegel vorschieben: Wer "illegal" komme, solle ohne Verfahren nach Ruanda abgeschoben werden. Ob dies legal ist, entscheidet im Juni das Appellationsgericht.

Im Oberhaus wird derzeit zudem über ein neues Asylgesetz beraten. Es soll Ministern die Möglichkeit geben, Klagen vor dem Europäischen Menschengerichtshof in Straßburg zu ignorieren. Die Opposition wird vom anglikanischen Erzbischof angeführt: Bravermans Asylpolitik sei "moralisch inakzeptabel und praktisch nicht durchführbar", glaubt Justin Welby. "Wir werden die besonders Verletzlichen nicht im Stich lassen, schließlich hat Jesus Christus uns ausdrücklich die Liebe zu ihnen als Aufgabe gegeben."

Konservative Panik

Einen Kulturkampf ganz anderer Art wünscht sich Innenministerin Braverman. Die Galionsfigur des äußersten rechten Parteiflügels beschwört regelmäßig den Volkswillen und sagt "linken" Asylanwälten sowie der "politisch korrekten" Beamtenschaft den Kampf an. Immigration gefährde den "Nationalcharakter", glaubt sie.

Die konservative Panik ist vor allem den schlechten Umfragewerten geschuldet, wo die Tories um bis zu 20 Prozent hinter der Labour-Opposition liegen. Deren Parteichef Starmer überraschte Freund und Feind am Mittwoch mit einer konkreten Ankündigung: Sollte seine Partei die binnen 18 Monate fällige Unterhauswahl gewinnen, werde er die Ausbildungsmöglichkeiten der einheimischen Bevölkerung verbessern. Beitragen soll dazu auch die Abschaffung der bisher geltenden Regel, wonach Arbeitgeber Ausländern 20 Prozent weniger Lohn zahlen dürfen.

Auf der entsprechenden Liste von Fachkräften stehen nicht nur die Saisonarbeiter in der Landwirtschaft, sondern auch Handwerker wie Dachdecker, Maurer und Fliesenleger. Ihnen weniger Geld zu bezahlen als britischen Arbeitskräften sei "unfair und führt und Lohndumping", argumentierte Starmer im Unterhaus.

Die neueste Maßnahme der Regierung hingegen schränkt das Recht ausländischer Studierender stark ein, Familienmitglieder ins Land zu bringen. Dies war schon bisher Bachelor-Studenten verboten. Ab Jänner gilt das Verbot auch für Master-Absolventen. Lediglich Doktoranden und Postgraduierte bleiben ausgenommen. (Sebastian Borger aus London, 24.5.2023)