Die Lage in der sudanesischen Hauptstadt Khartum hat sich nach Beginn eines Waffenstillstands etwas entspannt – doch in den Nachbarländern des Sudan, besonders im Tschad, spitzt sie sich dramatisch zu: Dort sind in den vergangenen Wochen bis zu 90.000 Flüchtlinge vor allem aus den Darfur-Provinzen eingetroffen.
Die derzeitige Waffenruhe wird von unzähligen Sudanesinnen und Sudanesen als Gelegenheit zur Flucht wahrgenommen. Fachleute warnen bereits vor einer "humanitären Katastrophe": Sobald die Regenzeit beginne – was bereits in wenigen Tagen erwartet wird –, könnten die Flüchtlinge nicht mehr ausreichend versorgt werden, ist Pierre Kremer von der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung (IFRC) überzeugt. "Wir versuchen derzeit, so viele Menschen wie möglich in Sicherheit zu bringen. Aber für alle wird uns das nicht gelingen."
"Herzzerreißende" Zustände
Die Situation in dem Flüchtlingslager Koufroun nahe der Grenzstadt Adré wird von Hilfsorganisationen als "herzzerreißend" beschrieben. Viele der ankommenden Flüchtlinge hätten weder Zelte noch Planen, unter denen sie Schutz suchen könnten, berichtet Ali Salam von der sudanesisch-amerikanischen Ärztevereinigung: Sie müssten unter Bäumen im Freien schlafen und seien Schlangenbissen sowie den Stichen von Skorpionen ausgesetzt. "Es gibt nicht genug Trinkwasser, nicht genug zu essen und keine Medikamente", sagte Salam dem britischen "Guardian". Rund 80 Prozent der Flüchtlinge seien Frauen und Kinder, teilt das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) mit. Oft seien Kinder bei den Kämpfen oder auf der Flucht von ihren Eltern getrennt worden. "Viele haben keine Ahnung, wo ihre Eltern sind oder ob sie überhaupt noch leben", so UNHCR-Sprecherin Eujin Byun.
Mit Einbruch der Regenzeit wird eine weitere Verschlimmerung der Situation im Tschad erwartet. Der Regen wird weite Teile des Landes unzugänglich machen, Hilfsgüter können dann nur noch eingeschränkt transportiert werden, die Gesundheitslage wird sich durch den Ausbruch von Malaria- und möglicherweise auch Cholera-Epidemien weiter verschlechtern. "Der Tschad kann mit diesen Herausforderungen nicht alleine fertig werden", so Abdelhakim Tahir von der Wirtschaftlichen und Sozialen Entwicklungsagentur des Landes zur Deutschen Welle: "Wir müssen das Schlimmste befürchten."
Schon heute sind nach UN-Angaben über 250.000 Menschen aus dem Sudan in eines der Nachbarländer geflohen. Halten die Kämpfe an, müsse mit weiteren 600.000 Flüchtlingen gerechnet werden. Die meisten Fliehenden steuern Ägypten an: Dort sollen bereits mehr als 110.000 Menschen Zuflucht gefunden haben. Sie müssen oft tagelange Wartezeiten an der Grenze in Kauf nehmen. In Ägypten angelangt, können sie auch nicht wirklich aufatmen: Sudans nördlicher Nachbar steckt in einer tiefen Wirtschaftskrise mit hoher Inflation und einem unter anderem vom Krieg in der Ukraine verursachten Nahrungsmittelmangel. Die UN sagten Ägypten fünf Millionen Dollar als Flüchtlingshilfe zu: nicht einmal ein Tropfen auf den heißen Stein.
Dramatische Lage im Südsudan
Im südlichen Nachbarland des Sudan, dem vor zwölf Jahren unabhängig gewordenen Südsudan, sieht die Lage noch schlimmer aus. Der jüngste Staat der Welt ist mit einem Pro-Kopf-Einkommen von gerade einmal 280 Dollar auch einer ihrer ärmsten. Vor dem Ausbruch der Gefechte im Sudan lebten dort mehr als 800.000 südsudanesische Flüchtlinge. Mehr als 65.000 von ihnen sollen inzwischen in ihre Heimat zurückgekehrt sein. Tausende von ihnen sind auf einem verlassenen Universitätsgelände im Renk-Distrikt untergebracht, wo sie vom UNHCR notdürftig über Wasser gehalten werden. In dem seit Jahrzehnten von Unruhen mitgenommenen Staat haben zwei Millionen Menschen ihr Zuhause verloren, ein Viertel der Bevölkerung ist auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen. "Schon jetzt ist die südsudanesische eine der am wenigsten unterstützten Krisen der Welt", klagt UNHCR-Sprecherin Charlotte Hallqvist.
Außer Ägypten gelten alle sieben Nachbarstaaten des Sudan als instabil: Auch die Zentralafrikanische Republik, Äthiopien und Eritrea werden von den Flüchtlingsströmen mit zusätzlichen Herausforderungen konfrontiert. Das Welternährungsprogramm (WFP) braucht für das kommende halbe Jahr nach eigenen Angaben mindestens 160 Millionen Dollar, um die Region mit den wichtigsten Lebensmitteln versorgen zu können. (Johannes Dieterich, 27.5.2023)