Marina Abramovic
Marina Abramović schöpft Energie aus ihren "Energy Clothes". Ihrer Meinung nach könnte man die Masken und Spitzhüte auch im Alltag tragen.
Marco Anelli / Marina Abramovic Abramovic

Aktuell präsentiert die Wiener Galerie Krinzinger die Ausstellung Energy Clothes der Performance-Ikone Marina Abramović. Zur Eröffnung konnte die in New York lebende Künstlerin aus gesundheitlichen Gründen nicht anreisen – das erste Mal in ihrer 54-jährigen Karriere, erzählt sie im Telefongespräch. Bekannt wurde Abramović in den 1970ern für ihre radikalen Aktionen, die sie mit und an ihrem Körper durchführte: Sie ritzte sich mit einem Messer in die Haut, peitschte sich aus oder schrie, bis ihre Stimme versagte. Ihre Performance The Artist Is Present, die sie 2010 im MoMA inszenierte, bezeichnet sie als ihre intensivste. Dafür saß sie für elf Wochen täglich siebeneinhalb Stunden komplett ruhig und schweigend da – und traf insgesamt 1.500 Menschen. Im September wird sie die erste Künstlerin sein, der eine umfassende Solo-Show in der Royal Academy in London gewidmet wird. Ein Gespräch über Humor in der Kunst, Satanismus-Gerüchte und darüber, warum sie Frauen nicht als Opfer sieht.

STANDARD: Ihre "Energy Clothes" erinnern an Magierhüte oder Verkleidungen. Auch Kristalle spielen eine wichtige Rolle. Wie spirituell ist Marina Abramović wirklich?

Abramović: Ich blicke in die Vergangenheit und erforsche vergessene Rituale. Durch diese Inspiration forme ich neue Kombinationen. Es ist einfach, mich in eine Kategorie zu stecken. Aber als Künstler muss man mehrere Funktionen erfüllen – man muss sozial, verstörend, spirituell, politisch sein. Es ist wichtig, dass Kunst mehrere Schichten hat, sonst ist sie schnell verbraucht. Spiritualität ist also nur ein Element meiner Arbeit. ­

STANDARD: Was denken Sie über den Begriff Esoterik?

Abramović: Sobald man in der Kunst Esoterik, Spiritualität oder Metaphysik erwähnt, wird man gelabelt. Ich möchte nicht eingeordnet werden. Einmal habe ich mich “Großmutter der Performancekunst" genannt, und jetzt wird diese Bezeichnung stets zitiert. Bitte nennen Sie mich nicht so! Das bin ich nämlich nicht. Wenn ich etwas bin, dann eine Kriegerin.

Marina Abramović
Die 1,20 Meter hohen Spitzhüte sind auch als Objekte in der Galerie Krinzinger ausgestellt.
Marco Anelli / Marina Abramovic Abramovic

STANDARD: In Ihrer nun in Wien gezeigten Fotoserie putzen Sie Zähne, bügeln im Freien oder sitzen auf der Toilette. Sind Ihre Werke lustiger geworden?

Abramović: Ich finde, dass Humor viel zu absent ist in der Kunst. Zu Beginn meiner Karriere war alles ernst, dabei bin ich sehr witzig im Alltag und liebe politisch inkorrekte und schmutzige Witze. Erst in letzter Zeit habe ich mehr Humor in meine Werke gepackt. Die Ausstellung in Wien ist die lustigste, die ich je gemacht habe.

STANDARD: In den letzten Jahren häufen sich Debatten um Political Correctness – wer was zeigen darf, wer über wen sprechen soll. Halten Sie das – abseits von Witzen – für übertriebene Sensibilität oder zeitgemäße Errungenschaft?

Abramović: Das ist kompletter Bullshit. Denken Sie an die 70er-Jahre und wie frei und wunderbar die Kunstszene damals war. Viele wichtige Arbeiten, die damals entstanden sind, könnte es in der heutigen Zeit mit dieser Political Correctness nicht mehr geben. PC zerstört die Kreativität und Freiheit von Kunstschaffenden. Aber ehrlich gesagt habe ich gar keine Zeit, mich damit zu beschäftigen, und konzentriere mich auf meine Arbeit.

STANDARD: In den 70er-Jahren waren Ihre radikalen Aktionen bahnbrechend. Warum verstören Nacktheit, Körperverletzung und Blut immer noch?

Abramović: Das hat sicher auch mit religiösem Fanatismus und dem Dualismus von Gut und Böse, Himmel und Hölle zu tun. Wir leben zwar im 21. Jahrhundert, aber unsere Mentalität ist relativ mittelalterlich.

STANDARD: 1975 arbeiteten Sie bei einer Aktion von Hermann Nitsch mit. Sie haben sich 24 Stunden lang auf ein Kreuz spannen lassen. Wie war diese Erfahrung für Sie?

Abramović: Es war eine sehr starke und wertvolle Erfahrung, aber ich würde sie nicht wiederholen wollen. 24 Stunden sind wirklich lang. Obwohl ich später in meiner Karriere eigene Performances durchführte, die viel länger, ja monatelang gedauert haben. Durch Nitsch kam ich erstmals mit so einer Daueraktion in Berührung.

STANDARD: Immer noch demonstrieren Menschen vor dem Nitsch-Museum in Österreich. Auch Sie werden mit verschwörerischen Anfeindungen konfrontiert. Was war das absurdeste Gerücht, das je über Sie kursierte?

Abramović: Dass ich Kinder esse und ihr Blut trinke. Ich wurde auch Satanistin oder Hohepriesterin genannt. Blödsinn, der von Verschwörungstheoretikern aus den USA stammt. Auch wenn man darüber lacht, sind solche Fake News gefährlich. Ich bekomme ständig Drohungen, aber dagegen kann ich nichts tun. Ich kann nur weiterarbeiten.

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STANDARD: Der Einsatz des weiblichen, nackten Körpers wird heute noch oft als feministisches Statement interpretiert. Ihre Kunst galt als radikalfeministisch – Sie selbst hingegen misstrauen dem Feminismus. Warum?

Abramović: Ich misstraue Feminismus nicht, ich möchte einfach keine Feministin sein. Ich bin Künstlerin, mein Geschlecht ist nebensächlich. Für mich gibt es zwei Kategorien: gute und schlechte Kunst. Und ob diese von transgender, afroamerikanischen, europäischen, weiblichen oder männlichen Personen gemacht wird, ist völlig egal. Im Moment wird man sofort in eine Schublade gesteckt, dann ist man "feministische Künstlerin". Kunst sollte aber nach ihrem Wert beurteilt werden.

STANDARD: Männliche, weiße Künstler sind in internationalen Museen und Sammlungen immer noch überpräsent. Fänden Sie es nicht erstrebenswert, die Diversität einer Gesellschaft auch in der Kunst widerzuspiegeln?

Abramović: Glauben Sie nicht, dass Frauen auch selbst Schuld daran haben? Viele Frauen haben Männern diese Machtposition überlassen. So viele Künstlerinnen, die mit ihrem Mann gemeinsam aktiv waren, entschieden sich, Kinder zu haben und keine Kunst mehr zu machen. Es waren bewusste Entscheidungen, die Arbeit für den Partner aufzugeben. Ich habe ein Problem mit dieser Idee, dass Frauen Opfer sind. Wir sollten Kriegerinnen sein!

STANDARD: Sie erkennen also keine Ungerechtigkeit, die aus einem patriarchalen System entspringt? Frauen hatten doch nicht immer eine Wahl …

Abramović: Was ist mit den Amazonen? Niemand hat diese in eine Rolle gedrängt. Es liegt an uns, das zu entscheiden. Auch in der Kunstgeschichte gibt es viele tolle und wichtige Frauen, die sich das nicht gefallen ließen. Denken Sie nur an Frida Kahlo! Als ich in den 70er-Jahren begann, Kunst zu machen, umgaben mich keine anderen Künstlerinnen. Ich habe meine Position einfach bezogen.

Marina Abramović
Auf der Biennale in Venedig 1997 säuberte Marina Abramović in ihrer Performance "Balkan Baroque" vier Tage lang sechs Stunden am Stück Rinderknochen.
Marina Abramovic Archives / VG Bild-Kunst, Bonn 2018

STANDARD: Hätte das auch funktioniert, wenn Sie Kinder bekommen hätten?

Abramović: Das wollte ich aber nie. Es war mir immer klar, dass ich mit Kindern nicht erfolgreich werden könnte. Man verfügt nur über eine Energie im Körper. Für mich war es Kunst, die Entscheidung war einfach.

STANDARD: Sie sind 76 Jahre alt und seit 50 Jahren künstlerisch tätig. Vor ein paar Jahren sagten Sie in einem Interview, dass Sie sich in der besten Phase Ihres Lebens befinden und Altern fantastisch sei. Was gefällt Ihnen daran?

Abramović: Die Weisheit. Mir hat einmal eine 110-jährige Frau gesagt, das Wichtigste im Leben sei, wie man es betritt und es wieder verlässt. Mir geht es jetzt um Letzteres.

STANDARD: Mittlerweile übernehmen zunehmend ihre Studierenden, denen Sie die "Methode Marina Abramović" lehren, performative Arbeiten. Wird Ihr Werk so unsterblich?

Abramović: Nein. Unsterblich wird es durch mein Publikum, das extrem jung ist. Durch diese Menschen wird mein Werk weiterleben.

STANDARD: Im September widmet Ihnen die Royal Academy in London als erste Künstlerin eine umfassende Einzelausstellung. Was darf man erwarten?

Abramović: Es ist eine riesige Chance. Ich möchte mit diesem Beitrag auch die Türen für weitere Künstlerinnen öffnen. Außerdem wird es die beste Ausstellung meines Lebens. Erstmals wird die ganze Bandbreite meines Schaffens gezeigt, auch Filme und Zeichnungen. Und weil ich nach meiner Operation länger nicht mit dem Flugzeug verreisen darf, werde ich mit dem Schiff nach London kommen. Nichts kann mich aufhalten! (Katharina Rustler, 27.5.2023)