Pop Konzert Grönemeyer
Herbert Grönemeyer badet in der Zuneigung der lieben Wienerinnen und Wiener: Er erklärt bereitwillig und mit überzeugender Stimmkraft, was "los" ist.
APA/FLORIAN WIESER

Jedes Wien-Konzert des Bochumer Weltpoeten Herbert Grönemeyer gleicht der Besiegelung eines schier unmöglichen Freundschaftspaktes. Deutschlands anmutigster Tanzbär trifft Aussagen, die in ihrem trotzigen Optimismus keinem Österreicher jemals schmerzfrei über die Lippen kämen.

"Das ist los" lautet der vor Geradlinigkeit strotzende Titel seines aktuellen Albums – nicht seines allerbesten, wie man hinzufügen muss. Allzu pflichtschuldig knattern die Elektroschlager. Grönemeyers eminente Fähigkeiten als Reimkünstler wurden vom alten Fahrensmann Alex Silva diesmal gnadenlos auf Formatradio getrimmt. Und dann passieren eben doch noch Zeichen und Wunder. "Herbie" reimt im Titellied "Rasputin" (man darf auch "Putin" zu dem bärtigen Chaos-Mönch sagen) auf "Killerqueen". Zum verhaltenen Schwung eines Elektroschleichers folgt die keineswegs höhnische Frage: "Was ist, Kid, kriegst du alles mit?"

Zu diesem Zeitpunkt sind in der Wiener Stadthalle bereits sämtliche Dämme gebrochen. 14.000 zu äußerster Hingabe entschlossene Grönemeyer-Fans wurden ausgerechnet mit einer Ballade wachgeküsst: "Tau" von der neuen Platte gehört zu diesen vor Ambivalenz bebenden Brutkammerliedern, wie sie nur Grönemeyer zusammenbringt: Zuversicht, Lust, Angst, sie alle drei mit dem Stabmixer zusammengerührt.

"Manchmal legt der Tau sich auf mich / und dann werd‘ ich leise traurig …" Das sind Verszeilen eines Kulturbochumers, deren sich auch ein gewisser Heinrich Heine aus Düsseldorf nicht zu schämen gebraucht hätte. Er drückt dazu in schöner Versunkenheit die Tasten seines E-Pianos: weit draußen, mutterseelenallein auf einem Steg, der die Masse der Wienerinnen und Wiener wie ein Meer teilt. Und schöpft solchermaßen mit uns allen gemeinsam die Kraft, 33 Lieder zu zelebrieren, aufgeteilt auf vier Blöcke.

Heimische Jugendblüte

Das große Wunder ist das einer umfassenden Völkerverständigung. Österreicher in ihrer frühen Jugendblüte, die den Mittelpunkt ihres Lebens vielleicht in Kagran oder Jedlesee gefunden haben, kennen jede Liedzeile aus "Bochum" auswendig: "Du Blume im Revier …" Grönemeyer-Lieder sind, komplett mit Butz und Stingl, in den Besitz der (deutschsprachigen) Weltjugend übergegangen.

Umso irrelevanter die Stimmen notorischer Zweifler, die nicht müde werden, "Herbies" Artikulation zu bemäkeln. Die die Unbeholfenheit seiner Tanzschritte monieren, den fehlenden Schwung etlicher Pirouetten, die vermeintliche Gedankenblässe mancher seiner Gedanken, Worte und Werke.

Pop Konzert Grönemeyer
Herbert Grönemeyer scheut nicht die Wonnen der Abstraktion (Bühne): Die neunköpfige Band unterstützt ihn nach Kräften.
APA/FLORIAN WIESER

Grönemeyer beherrscht seinerseits das Wort "leiwand". Er zeigt den Danubiern überzeugend, wie man – durch geduldiges Wiegen des Oberkörpers – einen "Schulterwalzer" tanzt. Er findet, eben weil er seit Ewigkeiten Aufklärer ist, Zeit, seinen Zuhörerinnen und Zuhörern den Ernst der Lage zu bimsen: Der Planet kocht über! "Es ist Zeit, dass wir der Politik erklären, dass es fünf vor zwölf ist – wenn nicht schon zwölf!" Im Lied "Oh oh oh" heißt es dazu: "Muss die Welt erst in Flammen stehen / bis wir zur Feuertaufe gehen?" Der Planet im dazugehörigen Video ist ein Schwefelkopf.

Bewährtes Arsenal

Dringlichkeit erzeugt dieser Fürsprecher des kleinen Mannes durch sein bewährtes Arsenal von Schreien: Er kiekst, juchzt, brüllt und gickst – oder presst ein animierendes "Go!" hinter die jeweils letzte Strophe. Refrains, liebes Publikum, bitte selbst mitzusingen! Und das lässt sich nicht lumpen, wirft seinem geliebten Bochumer die Verse im Bäckerdutzend zurück an den Kopf.

Dieser ermisst das Glück dieser interkulturellen Verständigung: "Unfassbar, wundervoll". Er vergisst vor lauter Hingebung sogar, zurück auf die Bühne zu hasten. Die neunköpfige Band brütet derweil und teilt elektrische Schläge aus. Manchmal, in den Ebenen des Frühwerks, spielt sie einen vor Biederkeit strotzenden Kartoffelstampf-Rock. Momentweise ringt sie sich aber auch zur Lakonie von Crazy Horse durch. Für Grönemeyer ist es "die beste Band der Welt". Mindestens für Berlin und Umgebung gilt sein Wort ohne jede Einschränkung.

Dieser Mann hat eben nicht nur "Flugzeuge im Bauch", er versteht sie auch zu bewegen. Das Publikum wollte mit dem Singen des Refrains von "Zeit, dass sich was dreht" gar nicht mehr aufhören. Auch das war Grönemeyers Wien-Besuch 2023: eine Art Höhenflugshow. (Ronald Pohl, 25.5.2023)