Die große Überraschung beim zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen ist ausgeblieben. Kemal Kılıçdaroğlu kann es zwar als Erfolg verbuchen, den alten und neuen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan überhaupt in Stichwahlen gezwungen zu haben. Aber das ist nur ein geringer Trost für alle, die auf einen Wandel gesetzt haben, eine Rückkehr zu den Werten einer liberalen Demokratie, den die Türkei vor zwanzig Jahren bereits eingeschlagen hatte.

Es ist zwar zu hoffen – weil es vernünftig wäre –, dass Erdoğan seine evident gewordene Schwächung in seiner zukünftigen Politik Rechnung trägt und auf die Opposition zugeht. Aber sein Wahlkampf mit der abstoßenden Rhetorik, dem unverschämten Einsatz von Fake-News und dem ungehemmten Missbrauch von Staatsressourcen für eine Partei und eine Person gibt wenig Anlass zu Optimismus. Wie sehr der öffentliche Diskurs degradiert ist, wurde klar, als auch der eher sanfte, bürokratisch wirkende Kılıçdaroğlu in der letzten Phase des Wahlkampfes zu ultrarechten Slogans gegen Flüchtlinge griff und das Terrorismus-Gespenst an die Wand malte. Vielleicht konnte er ja damit ein paar rechte Erdoğan-Gegner an sich ziehen, das linksliberale Publikum hat er dadurch eher verschreckt.

Keine Scheinwahlen, aber auch keine fairen Wahlen

In der Türkei wurde ein Exempel dafür statuiert, wie schwierig es ist, einen Systemumbau in Richtung Autokratie zu stoppen, wie ihn Erdoğan seit Jahren betrieben hat. Der österreichische Politologe Cengiz Günay nennt es ein "kompetitiv-autoritäres Regime": Die Wahlen bleiben die wichtigste Legitimationsquelle und sind, trotz Verstößen, auch keine Scheinwahlen. Aber sie finden keinesfalls unter fairen Bedingungen statt. Der öffentliche Raum gehört der herrschenden Partei und der herrschenden Person. Ein großer Teil der Wählerschaft sieht gar keine andere Option für sich als die zu wählen, die am meisten Macht im System haben.

Recep Tayyip Erdoğan
Recep Tayyip Erdoğan - trotz allem bleibt er Präsident.
AP

Und das gilt vielleicht ganz besonders in schlechten Zeiten: Die Wirtschaftsdaten können noch so miserabel sein, wenn Appelle an die nationale und religiöse Loyalität von Wählern und Wählerinnen und die Drohung mit Unsicherheit nur eindringlich genug sind. Die Unterstützung für Erdoğan in den Erdbebengebieten zeigte es: Die Menschen dort wissen, wo die Macht im Staat wohnt und wählen das, was sie kennen, und den, der ihnen am ehesten ad hoc liefern kann, was sie brauchen. Und das Erdbeben hat ohnehin Gott geschickt, wie ein Erdoğan-Wähler in einem ORF-Beitrag vor der Stichwahl festhielt – offensichtlich auch die Korruption, die die Erdbebensteuer in dunkle Kanäle anstatt in einen sicheren Wohnbau fließen ließ.

Kein Aufbruch, sondern Stillstand

Viele junge moderne Menschen, die die Mischung aus Islam und Nationalismus zu Recht für vorgestrig halten, werden nun nach Möglichkeiten außerhalb der Türkei suchen. Denn auch wenn es mit Gewissheit Erdoğans letzte Amtszeit sein wird – das sagt er selbst so, und dass er nicht gesund ist, sieht man –, so ist die Zukunft ungewiss, gerade auch jene, wie die AKP und der Klüngel um ihn herum die Zeit nach ihm managen wird. Nicht nur Türken und Türkinnen sind von dieser Unsicherheit betroffen, wie sich die Türkei weiter entwickeln wird. Es waren die wichtigsten Wahlen des Jahres in der gesamten Region, die heute "Eurasia" genannt wird, und darüber hinaus, Stichwort Nato. In mehrerer Hinsicht hat die Türkei eine Schlüsselposition inne, zwischen der Ukraine und Russland, als starke Regionalmacht am Mittelmeer mit Ambitionen in Nordafrika und dem Nahen Osten, für Europa als wortwörtlicher Ankerpunkt in Flüchtlings- und Migrationsbewegungen. Erst einmal gibt es keinen Aufbruch, sondern Stillstand. (Gudrun Harrer, 28.5.2023)