An vielen Abschnitten der 1500 Kilometer langen Front versuchen ukrainische Kämpfer derzeit, in die Offensive überzugehen.
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Darüber, wie der Start einer Gegenoffensive zur Vertreibung der russischen Besatzer aus der Ukraine aussehen könnte, hat es in den vergangenen Monaten viele Debatten gegeben. "Nicht mit einer feierlichen Zeremonie, bei der ein rotes Band durchschnitten wird, an einem gewissen Tag zu einer gewissen Uhrzeit", stellte der ukrainische Präsidialberater Mychailo Podoljak nun am Donnerstag wohl etwas spöttisch via Twitter klar.

Wenn es nach Podoljak geht, wurde die Gegenoffensive der Ukraine zur Befreiung des illegal von Russland besetzten Gebiets nämlich schon gestartet, wie er der italienischen Rai sagte: "Das ist ein intensiver Krieg entlang einer Grenze von 1500 Kilometern. Unsere Aktionen haben bereits begonnen."

Um welche Aktionen es sich konkret handelt, ließ Podoljak freilich offen. Klar ist: Seit einiger Zeit mehren sich Berichte über Angriffe auf bedeutende russische Stellungen. So stiegen am Donnerstag Rauchwolken über dem Flugfeld in Melitopol auf – einer von Russland besetzten, strategisch wichtigen Stadt in der Oblast Saporischschja. Zuvor hatte Moskau einen versuchten Drohnenangriff auf ein russisches Kriegsschiff im Schwarzen Meer gemeldet. Aus Kiew erfolgte dazu bisher keine Stellungnahme – lediglich eine Bestätigung der Berichte über heftige, jedoch abgewehrte russische Drohnenattacken auf Kiew.

Hohe Erwartungen

Nach Einschätzung von Experten könnte Podoljaks Wortmeldung aber auch dazu dienen, die Erwartungen an die seit langem angekündigte Gegenoffensive zu dämpfen. Immerhin steigt seit Wochen der Handlungsdruck – zugleich fehlt es der ukrainischen Seite laut Beobachtern aber noch an Mitteln für einen schweren Schlag.

Jüngst hatte auch Geheimdienstchef Kyrylo Budanow im japanischen Rundfunk eingeräumt, dass russische Schläge Pläne für die Gegenoffensive gestört hätten. Dennoch sei nun alles für die Gegenoffensive vorbereitet: Das nötige Minimum an Waffen stehe bereit, "wir dürfen keine Zeit mehr verlieren".

Indes kündigten auch die aus Russen bestehenden proukrainischen Freiwilligenverbände, die zu Wochenbeginn gewaltsam in die russische Region Belgorod eingedrungen waren, neue Aktionen gegen Russland an: Bei einer Pressekonferenz an einem eher ungewöhnlichen Ort – einer Lichtung in einem nordukrainischen Waldstück nahe der russischen Grenze – drohten zurückgekehrte Kämpfer Moskau mit einem baldigen Wiedersehen. "Ich denke, Sie werden uns wieder auf der anderen Seite sehen", sagte Denis Nikitin, Neonazi und Gründer der Legion Freiheit Russlands mit dem Rufnamen White Rex. Genaueres wolle er nicht verraten. Nur so viel: "Die russisch-ukrainische Grenze ist ziemlich lang. Es wird wieder einen Ort geben, an dem es heiß hergeht."

Mit ihrem Überfall zu Wochenbeginn war es den heimischen Gegnern von Präsident Putin gelungen, Lücken in der russischen Verteidigung aufzuzeigen und damit die Bevölkerung und wohl auch den Kreml zu verunsichern - und auch Putins Kritiker zu befeuern.

Für Wirbel sorgte der Angriff jedoch auch in den USA: Nach einem Bericht der New York Times hatte die Miliz bei ihrem Überfall mindestens drei gepanzerte US-Militärfahrzeuge verwendet. Und das, obwohl zwischen Kiew und Washington vereinbart wurde, dass Ausrüstung weder weitergegeben noch in Russland eingesetzt werden darf. Zu groß ist die Angst, dass das Nato-Bündnis dadurch tiefer in den Krieg hineingezogen werden könnte. Die USA wollen die Berichte nun überprüfen. US-Regierungssprecher John Kirby wetterte dabei: "Wir haben es verdammt deutlich gemacht: Wir wollen keinen Einsatz von US-gefertigter Ausrüstung auf russischem Gebiet."

Die tödliche Schlacht um Bachmut scheint vorerst geschlagen. Zumindest ziehen sich die russischen Wagner-Söldner nach extrem hohen Verlusten siegreich aus den Vororten zurück.
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Die Ukraine verneint vehement, Kriegsmaterial an die Milizen weitergegeben und mit dem Überfall etwas zu tun zu haben – wenngleich dieser in der Ukraine bejubelt wurde. Doch Äußerungen der proukrainischen Russen-Verbände befeuern gegenteilige Spekulationen: Obwohl Nikitin ebenfalls darauf beharrt, auf eigene Faust auf russischem Staatsgebiet zu agieren, räumte er im CNN-Gespräch ein, von ukrainischer Seite – wohl dem Militärgeheimdienst – durchaus dazu ermutigt worden zu sein.

Drohnenangriff auf Kreml

US-Geheimdienste vermuten laut Medienberichten außerdem, dass ukrainische Spezialeinheiten hinter dem Drohnenangriff auf den Kreml Anfang Mai gestanden haben könnten. Abgefangene russische und ukrainische Kommunikation hätten zu dieser Einschätzung geführt. Was der Kreml eifrig bejaht, sieht Kiew als Versuch, westliche Waffenlieferungen zu beeinträchtigen, und dementiert.

Indes hat der russische Geheimdienst die Festnahme zweier Ukrainer gemeldet, die angeblich Strommasten russischer Atomkraftwerke in die Luft jagen wollten. In Vororten des von Wagner-Söldnern großteils eroberten Bachmut wurden Prigoschin-Männer laut Kiew durch russische Soldaten ersetzt. Zudem dürften 106 in Bachmut gefangen genommene Ukrainer gegen eine unbekannte Zahl an Russen ausgetauscht worden sein. (Flora Mory, 26.5.2023)