Simone Flatz ärgert sich auch fünfeinhalb Jahre später noch. Damals, im Herbst 2017, verkündeten die Koalitionsverhandler von ÖVP und FPÖ, dass die klassischen Schulnoten von Sehr gut bis Nicht genügend wieder ab der zweiten Volksschulklasse verpflichtend werden sollten. 2018 wurde diese Rückkehr der Ziffernnoten für alle Volksschulkinder dann im Parlament abgesegnet – und ist immer noch gültig. "Eine Note ist so was von ungerecht", sagt Flatz heute dem STANDARD.

Sie ist Lehrerin an der Volksschule Lustenau-Kirchdorf, die man in Vorarlberg als besonders reformorientierte Montessori-Schule kennt. "Manchen Kindern fallen die Inhalte, die wir prüfen, einfach in den Schoß. Andere arbeiten hart, um nur ein Zehntel von dem zu können, was ein anderes Kind kann", kritisiert Flatz die nun wieder verpflichtende Vergabe von Schulnoten für jüngere Volksschulkinder. Für sie ist das türkis-blaue Schulpaket von 2018 eine Retro-Reform.

Mit ihrer Kritik an Schulnoten ist die Vorarlberger Lehrerin bei weitem nicht allein. Noten sind immerhin ein jahrhundertealtes System zur Leistungsbeurteilung von Schülern. Unter Maria Theresia wurden Schulkinder im 18. Jahrhundert nach einer dreistufigen Notenskala als "gut", "mittel" oder "schlecht" beurteilt. Die Kaiserin wiederum konnte sich damals schon auf die Jesuiten berufen, die bereits im Jahr 1599 eine Studienordnung mit einem Ziffernnotensystem von 1 bis 6 festgeschrieben hatten. Da liegt die Vermutung nahe, dass es mittlerweile etwas Besseres geben könnte.

Verzerrtes Feedback

Ein Problem ist, dass Noten zwar objektiv scheinen, aber keineswegs objektiv sind. So zeigen Vergleiche von Schulstandorten und auch von Klassen innerhalb ein und derselben Schule, dass gleiche Leistungen zu unterschiedlichen Noten führen.

Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass eine Ziffernnote ein extrem verdichtetes Feedback für eine Schülerin oder einen Schüler bedeutet. So kann es sein, dass ein Kind im Deutschunterricht sehr gut im mündlichen Ausdruck, aber eher schwach bei Rechtschreibung ist. Eine Ziffernnote kann das nicht abbilden. "Ich erfahre als Schüler eine Ziffer, aber ich erhalte kein Leistungsprofil", sagt Georg Hans Neuweg, Professor für Wirtschafts- und Berufspädagogik an der Johannes-Kepler-Universität Linz. "Eine Ziffernnote enthält insbesondere keine Information darüber, was ich tun kann, um besser zu werden."

Schulzeugnis in Österreich
Ziffernnoten geben Schülerinnen und Schülern ein extrem verdichtetes Feedback.
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Konzepte ohne Noten

Alternativen gibt es, mit diversen Vorteilen und Nachteilen. Differenziertere und feinere Bewertungsschlüssel haben den Nebeneffekt, dass sie die Information nicht so schnell transportieren. Ein Vergleich von Schülern und Absolventen ist bei feingliedrigen Bewertungen nicht so augenblicklich möglich wie bei bloßen Ziffern. (Was man auch als Vorteil betrachten kann.) Nicht zuletzt ist der Aufwand für die Lehrkräfte höher, wenn sie ein genaueres Feedback liefern und dieses dann auch mit Kindern und Eltern besprechen.

  • Verbale Beurteilung Sie bietet den Vorteil, dass man den Schülern eine genauere Rückmeldung liefern kann. So kann die Lehrkraft die Schwächen und Stärken des Schülers besser erkennbar machen. Worte ermöglichen mehr Information und Motivation. Allerdings: Auch verbale Beurteilungen können, wie die Schulnote, durchaus verzerrt sein. "Wo damit experimentiert wurde, neigten die Lehrkräfte dazu, floskelhafte Textbausteine zu verwenden", gibt Bildungsexperte Neuweg zu bedenken. "Das Instrument ist außerdem janusköpfig. Sie können mit Worten viel stärker kränken als mit Ziffern."
  • Kompetenzraster In einem Raster mit zwei Achsen werden die diversen Fähigkeiten des Beurteilten in einem Schulfach beschrieben. Eine Achse listet die gefragten Kompetenzen auf, die andere bestimmte Niveaustufen. Dann können in den Feldern des Rasters die Lernfortschritte und Tätigkeiten des Schülers geschildert werden. "Kompetenzraster sehe ich gerade ab der Unterstufe als das Mittel der Wahl", sagt Neuweg. Diese könnten sowohl als Beiblatt zum Zeugnis als auch "als Ersatz für die Ziffernnote" eingesetzt werden.
  • Leistungsportfolio In diesem Konzept verzichtet man auf die Beurteilung von Schülern. Diese legen im übertragenen Sinne "Mappen" an, in denen sie ihre Leistungen selbst dokumentieren. Mit einem solchen Leistungskatalog in der Tasche könnten die Schüler sich dann bei Hochschulen oder Arbeitgebern bewerben. Man kennt diese Portfolio-Idee von reformpädagogischen Schulen. Auch der verstorbene oberösterreichische Schulreformer Rupert Vierlinger propagierte die Portfolios, um den Ziffernnoten den Kampf anzusagen.

Auslese nach Ziffern

Notenbefürworter argumentieren, dass die numerische Leistungsbeurteilung spätestens am Ende der Schulzeit maßgeblich bleiben werde. Weil die Noten bei Hochschulen und Arbeitgebern die harte Währung seien. Notenkritiker sagen hingegen, dass die Unternehmen schon jetzt nach einem Leistungsprofil dürsten, das Ziffernnoten nicht abbilden können. Beispiel: Ein Fußballklub wird keinen Spieler verpflichten, nur weil er im Fach Bewegung und Sport ein Sehr gut hat, sondern genauer hinschauen.

Schulnoten entscheiden aber schon viel früher über berufliche Aussichten. Nach vier Jahren Volksschule werden Kinder in Österreich auf AHS und Mittelschulen verteilt. Das setzt nicht nur die Schülerinnen und Schüler, sondern auch Volksschulpädagoginnen unter Druck, weil sie wissen, einem Kind bei zu schlechten Noten die AHS-Laufbahn zu verwehren.

Pauken für Noten

Ferdinand Eder, pensionierter Professor für Pädagogik an der Universität Salzburg, plädiert deshalb dafür, gemeinsam mit den Noten auch das Schulsystem neu zu denken. "Der Unterricht in der Volksschule leidet sehr darunter, dass abschließend mit neuneinhalb Jahren eine Trennung auf Basis der erreichten Noten vollzogen wird. Die einen Kinder kommen in die AHS und die anderen in die Mittelschule. Das versaut eigentlich das Lernen in der Volksschule", sagt Eder zum STANDARD.

Im Vordergrund stehe dadurch nicht der Erwerb von Wissen und Können, sondern das Erreichen einer guten Note. Die persönlichen Lernerfolge eines Kindes werden in dieser Sichtweise durch die Benotung kontaminiert.

Lernen fürs Leben

Die deutschen Bildungswissenschaftler Hans Anand Pant und Silvia-Iris Beutel beschreiben in ihrem Buch "Lernen ohne Noten" von 2020, was viele Kritiker des Ziffernsystems teilen: Es gehe nicht darum, einfach nur Ziffernnoten abzuschaffen, sondern die gesamte Herangehensweise an die Bewertung von Leistungen zu verändern.

Die Bewahrer der Ziffernnoten verteidigen diese als Ausdruck des Leistungsgedankens. Viele Fürsprecher von Alternativen sagen nicht nur, dass die Leistungen bei differenzierten Rückmeldungen sogar besser wären, weil sie den Schülern mehr Information und Motivation gäben. Nein, sie rütteln auch an einem traditionellen, engen Leistungsbegriff.

Pant und Beutel plädieren in ihrem Buch dafür, die Begriffe "Leistungsfeststellung" und "Leistungsbeurteilung" klar zu unterscheiden. Dies ermögliche eine Schule, in der vielfältige Fähigkeiten geachtet und gefördert werden. "Jeder, der im Beruf steht, weiß, dass die Kreativität, die eine Gruppe erzeugen kann, die Gedankenvielfalt, die Mehr-Perspektivität heute zielführend sind, um sehr komplexe Probleme miteinander angehen zu können", erklärt Beutel in einem Video auf der Onlineplattform "Deutsches Schulportal". Vielleicht werden Ziffernnoten künftigen Schülergenerationen ja einmal so antiquiert vorkommen wie der Rechenschieber und die Schiefertafel. (Lukas Kapeller, 26.5.2023)