Der Lärm unserer Zivilisation hat sich über die Jahrhunderte verändert, zuweilen holt er uns heute auch in den eigenen vier Wänden ein.
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Stille. Viele wünschen sie sich. Viele sehnen sich danach – bis die Nachbarn ihre klappernden Rasenmäher anwerfen. Viele brauchen Stille. Aber nur wenige halten Stille aus. Denn Stille ist nicht Schweigen. Und Schweigen ist keineswegs identisch mit Stille.

Ist Schweigen der Kommunikation verpflichtet, weil sie sich dem Gespräch entzieht oder dieses verweigert, so ist Stille – ja, was genau ist eigentlich Stille? Ein Naturzustand? Aber ist die Natur wirklich still? Ist Stille eine psychologisch-neuronale Bedingung synaptischer Gehirnplastizität, damit sich der menschliche Organismus regenerieren kann?

Lärm macht krank

Ist Klang also Leben, lautes, intensives Leben – und Stille das Ende von Leben, von allem, eben Totenstille? Ist Stille etwas, das wir erzeugen und selbst konstruieren können? Lärm hingegen stößt uns willenlos, doch nicht absichtsfrei zu, da die Ohren ganz buchstäblich nicht davor zu verschließen sind.

Was Lärm ist, bedarf dies noch näherer Bestimmung? Lärm ist: Krach, ungewollter, unerwünschter Klang. Er ist nicht nur eine nervliche wie Stimmungsbelastung, Lärm macht krank. Und tötet. Erst dieser Tage haben die Vereinten Nationen London zu einer der lautesten Städte Europas gekürt. Im Durchschnitt wurde eine Laut- und Lärmkulisse von 86 Dezibel (dB) gemessen, 50 Prozent höher als der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfohlene Maximalwert von 53 dB. Die psycho-physiologischen Folgen? Hypertonie, Schlaganfall, Panikattacken, Depressionen und Diabetes Typ 2; bei Kindern wird wissenschaftlich einer Verbindung von Lärm und reduzierten oder sich langsamer entwickelnden Kognitionsfähigkeiten nachgegangen. Durch Lärm, so eine Überschlagsrechnung der WHO, geht eine Million gesunde Menschen-Jahre verloren.

Akustische Erdgeschichte

Dabei ist Lärm nicht wirklich neu. Er war schon immer da. Das führt Kai-Ove Kessler eindringlich vor. Kessler, der seit mehr als 20 Jahren Redakteur bei einem norddeutschen Fernsehsender ist, unternimmt eine Promenade durch 30.000 Jahre Lärm. Dabei geht er chronologisch vor, beginnt in der akustisch unbekannten Erd- und Urgeschichte, versucht sich an Skizzen des Lärms der Vor- und Frühgeschichte und geht dann durch Antike und Frühe Neuzeit zu jenen beiden Jahrhunderten, die chrono-akustisch hinreichend bis exzellent dokumentiert sind – und die knapp die Hälfte des Textes ausmachen: das 19. und das 20. Jahrhundert.

Wer meint, dass früher alles nicht nur besser, sondern auch leiser war, der irrt. Städte waren immer schon laut, ob bei Tag oder bei Nacht, das augusteische Rom wie jenes des Kaisers Diokletian um 300 n. Chr., ebenso Shakespeares oder Dr. Johnsons London: bestürzend laut infolge der Straßenhändler, Ausrufer, Bettler, Musiker, Kutschen, Peitschen, Pferde, Streitereien. Die Prä-Industrialisierung: so lautlärmend wie die Hoch- und die Post-Industrialisierung. Sinatras New York schlief bekanntlich nie, so wie heute schlechter Schlaf in New Delhi, Kairo oder Mumbai garantiert ist. Wobei Kessler eingesteht, dass er seinen Schwerpunkt auf Europa und die USA setzt.

Kai-Ove Kessler, "Die Welt ist laut. Eine Geschichte des Lärms". € 26,80 / 432 Seiten. Rowohlt, Hamburg 2023
Rowohlt

Klanglandschaften

Noch merkwürdiger ist, dass der Hobbyschlagzeuger Kessler lediglich peripher auf ohrstürzende Musik eingeht, man wartet Seite um Seite auf Death-Metal-Bands, Rammstein, Motörhead oder Leftfield (bei deren Konzert 1996 in der Brixton Academy, London, wurden 137 dB gemessen, der Wert eines direkt benachbarten Flugzeugstarts, der Putz flog von den Wänden) – und wird enttäuscht. Mehr als grenzwertig ist auch seine Einstufung unterschiedlich lauter, subjektiv lärmender tierischer Kommunikation unter "Noise".

Andererseits wartet Kessler mit einer Fülle an Informationen auf, hat einen guten, wenn auch hie und da zu niedrigschwelligen erzählerischen Duktus. Kundig navigiert er durch die vielfältigen Klanglandschaften, von Dinosauriertönen, den weithin knallenden Hammerwerken der Frühen Neuzeit über die lärmdesperate Hoch- und Spätmoderne – Kafka griff auf Ohropax zurück, Walter Kempowski lakonisch: "Ohne Ohropax kein Manuskript." Man wird jedoch durchgehend den Eindruck nicht los, dass es sich Kessler – vermeintlichen Lese- wie Höraufmerksamkeitsdefiziten des Publikums Genüge tuend – durch sehr kurze Kapitel zu einfach macht. Hinzu kommt manche wenig sorgfältig gesetzte Formulierung. Bedauerlich ist auch, dass der Verlag dem Buch ein Register verweigerte. (Alexander Kluy, 27.5.2023)