Das deutsche Daedalic Entertainment wandert mit "Gollum" in ferne Lande – es hätte wohl besser ein Adventure machen sollen.
Daedalic Entertainment

Manchmal kann es erfrischend sein, eine altbekannte Geschichte aus der Sicht eines Antagonisten zu erleben. Wolfgang Hohlbeins Nibelungen-Roman "Hagen von Tronje" ist ein gutes Beispiel dafür, ebenso wie die in Indien verbreiteten Indie-Comics um Ravana, den Dämonen des "Ramayana"-Epos. Und dann gibt es noch die von J. R. R. Tolkien erschaffene "Herr der Ringe"-Welt, die heutzutage in Form von Filmen, Serien und auch Computerspielen regelmäßig ausgebaut wird. Der jüngste Auswurf der Gelddruckmaschine ist "Der Herr der Ringe: Gollum": ein Spiel, in dem man in die Haut der tragischen Figur des einstigen Hobbits Sméagol schlüpft, dessen Seele durch den Ring korrumpiert wurde. Klingt eigentlich nach einer guten Idee, denn gerade ein interaktives Medium könnte den Konflikt zwischen Gollum und Sméagol gut auf den Punkt bringen, oder etwa nicht? Leider nein, wie ein Test des STANDARD auf dem PC ergibt.  

Bugs, so weit das allsehende Auge reicht

Die Hardwareanforderungen von "Der Herr der Ringe: Gollum" sind recht happig angesetzt. Zumindest vorausgesetzt werden ein Intel Core i5-4690 bzw. AMD Ryzen 3 1300 X, als Grafikkarte eine Nvidia GTX 1060 mit 6 GB oder eine AMD Radeon R9 290X mit 4 GB sowie 8 GB RAM. Empfohlen wird ein Intel Core i7-8700K oder AMD Ryzen 5 3600X, eine Nvidia GeForce RTX 3070 mit 8 GB und DLSS oder eine AMD Radeon RX 6750 XT mit 12 GB sowie 16 GB RAM. Das möchte ich an dieser Stelle auch aus Transparenzgründen erwähnen, weil auf meinem mehr als drei Jahre alten Gaming-Laptop die Grafikkarte – eine Nvidia GTX 1050 Ti – das Ziel knapp verfehlt, ich dafür mit einem i7-Prozessor über den Mindestanforderungen liege.

The Lord of the Rings: Gollum - Launch Trailer | PS5 & PS4 Games
https://store.playstation.com/en-us/concept/10003139 He's got nothing more to lose… How far will he go to retrieve his Precious? Taking place in parallel to the events described in The Fellowship of the Ring ™, The Lord of the Rings: Gollum is an action-adve
PlayStation

Entsprechend hatte ich während des Tests auch meinem Laptop ein wenig die Schuld gegeben, dass das Spiel auf meinem Bildschirm teilweise so aussieht, als wäre es vor zwanzig Jahren entwickelt worden: Wer keinen High-End-Gaming-PC zu Hause stehen hat, der kann in diesem Spiel mit nicht vorhandenen Texturen auf Gegenständen und Charakteren ebenso wie mit diversen ruckeligen Animationen rechnen. Über Framerates mache ich mir selten Gedanken, ich teste Games lieber auf Inhalte, doch auch ich musste mich an manchen Stellen einfach nur angewidert abwenden, wenn sich etwa die Fahrt in einem Ork-Fahrstuhl zu einer horrenden Ruckelpartie entwickelte. 

Und dann gibt es noch technische Fehler, die sich nur schwer auf die Hardwareausstattung des Users schieben lassen. So sind Lippenbewegungen in der deutschen Synchronisierung nicht bloß ständig asynchron, manche Charaktere bewegen ihre Lippen beim Sprechen überhaupt nicht. An anderer Stelle stehen Bärte aus Gesichtern absurd in die Höhe und verhalten sich beim Sprechen vollkommen unnatürlich. Und Kamerawinkel nehmen teilweise eine derart obskure Position an, dass entweder Gollum selbst oder das anzusteuernde Ziel nicht sichtbar wird und der Erfolg eines Vorhabens zu einem reinen Glücksspiel wird. Untertitel wurden teils einfach auf Englisch angezeigt. Wer Elbisch hören möchte, muss einen DLC kaufen

Ein Sklavensimulator

Aber okay. Es gibt ja Menschen, die technische Mängel in Kauf nehmen, wenn sie dafür zumindest eine spannende Story und abwechslungsreiches Gameplay bekommen. Doch auch hier tun die Developer den Fans nicht wirklich einen Gefallen. Inhaltlich ist das Spiel zwischen den Geschehnissen der Romane "Der Hobbit" und "Der Herr der Ringe: Die Gefährten" angesiedelt und soll somit die Erlebnisse des Antagonisten zu Beginn der berühmten Fantasytrilogie beleuchten.

So sieht die Grafik von "Gollum" aus, wenn man das Spiel auf einem nicht ganz aktuellen Gaming-Laptop zockt.
Screenshot

An und für sich ist dieser Ansatz schon in Ordnung. Nur bedeutet dies halt auch, dass man als Gamerin oder Gamer die ersten Spielstunden von "Der Herr der Ringe: Gollum" als Sklave in den Minen von Mordor verbringt und dort zu einem großen Teil das tut, was Sklaven halt den lieben langen Tag so machen: stumpfsinnige Aufgaben erfüllen. Das äußert sich vor allem in diversen Fetch-Tasks, bei denen etwa Marken von Verstorbenen gesammelt oder irgendwelche Tiere gefüttert werden müssen. Fragen sich manche Menschen in unserer Community, warum man nach dem Daytime-Job abends noch Games wie den "Landwirtschaftssimulator" spielt, so drängt sich hier noch mehr die Frage auf: Warum sollte man sich nach einem Tag voller Excel-Tabellen aktiv dazu entscheiden, ein Sklave zu sein? 

Ödes Gameplay

Doch die Sklavenarbeit ist nicht das einzige Gameplay-Element, bei dem "Der Herr der Ringe: Gollum" schwächelt. So liegt es in der Natur des Protagonisten, dass er nicht kämpfen kann, dafür besteht das Spiel aus diversen Schleich- und Klettersequenzen. Wie schon eingangs erwähnt, kann das Klettern äußerst frustrierend sein, wenn das Ziel etwa nicht sichtbar ist. Außerdem hat Gollum einen Stamina-Balken, der sich manchmal – aber nicht immer – bemerkbar macht, wenn er an einem Abhang hängt. Der Weg zur nächsten Aufgabe kann theoretisch auf Wunsch angezeigt werden, was aber längst nicht immer funktioniert. 

Die Schleichsequenzen sind um keinen Deut besser. So gibt es in Mordor zwar keine Büsche, aber dafür Schatten, in denen sich Gollum verstecken kann. Und in diesen ist er so unsichtbar, dass die Orks ihn selbst dann nicht sehen, wenn sie zwei Meter neben ihm stehen. Generell sind die Schergen Saurons nicht sonderlich clever, sondern gehen strikt immer die gleichen Strecken ab. Manche Orks kann Gollum würgen, solange sie keinen Helm tragen, ansonsten ist sein Handlungsspielraum sehr eingeschränkt: Er kann maximal noch Steine werfen, um sie abzulenken. Wer eines der jüngeren "Assassin's Creed"-Spiele gezockt hat, der vermisst hier die Abwechslung.

Ein kurzer Hoffnungsschimmer sind Gollums innere Dialoge. Bis man merkt, dass sie irrelevant sind.
Screenshot

Potenzial wäre noch dringesteckt, den Konflikt zwischen Gollum und Sméagol zu thematisieren, und manchmal entsteht sogar der Eindruck, als sei dies gelungen: An manchen Stellen kann man entweder als der Bösewicht oder als der gutgläubige Hobbit antworten, in anderen Situationen führen die beiden im geschundenen Körper beheimateten Seelen ein Streitgespräch, das wohl von der legendären Dialogszene aus den Filmen inspiriert ist. Die ersten paar Male macht das noch Spaß – bis man nach ein paar Spielstunden bemerkt, dass diese Entscheidungen keinen direkten Einfluss auf das unmittelbare Spielgeschehen haben.

Fazit: Schuster, bleib bei deinem Leisten

Es gibt viele Gründe, warum "Der Herr der Ringe: Gollum" seine 49,99 Euro (bzw. 59,99 Euro für die "Precious Edition") nicht wert ist, von der schockierend schlechten technischen Performance über das lahme Setting bis zum eintönigen Gameplay. Wirklich traurig ist aber, dass hier eigentlich eine gute Idee vorhanden war, die aber von Grund auf falsch umgesetzt wurde. Der Konflikt zwischen den beiden Figuren hätte ebenso Potenzial geboten wie die Möglichkeit, die Geschichte aus der Sichtweise einer tragischen Figur zu erzählen.

Dafür hätte man aber vielleicht überhaupt ein anderes Format wählen müssen – vor allem wenn man Daedalic heißt. Die Deutschen haben davor nämlich schon mit Titeln wie "Das Schwarze Auge: Satinavs Ketten", "Deponia" und "Edna & Harvey" bewiesen, dass sie richtig gute Adventures machen können. Und vielleicht wäre das der richtige Weg gewesen, um eine Geschichte zu erzählen, bei der es mehr um Emotionen als um Action gehen sollte. (Stefan Mey, 27.5.2023)

Hinweis im Sinne der redaktionellen Leitlinien: Ein Code für das Spiel wurde dem STANDARD zu Testzwecken zur Verfügung gestellt.