Hurghada, Ägypten, 2018: In ihrer fotografischen Arbeit durchleuchtet die Fotografin Sarah Pannell die Tourismusindustrie.
Hurghada, Ägypten, 2018: In ihrer fotografischen Arbeit durchleuchtet die Fotografin Sarah Pannell die Tourismusindustrie.
Sarah Pannell

Erst hatte ich es mit Magnesium probiert, dann mit Vitamin D und B12, und schließlich, als auch das rechte Augenlid zuckte und nicht nur das linke, mit Urlaub. Zwei Wochen hatte ich aus dem Vorjahr übrig. In diesen wollte ich nichts tun und war dafür extra in ein Klettergebiet gefahren: ein paar Hütten, ein paar Bäume. Es gab nichts zu sightseen, nichts secondhandzushoppen. Und weil nichts auf dieser Welt mich weniger interessiert als klettern, schien mir die Erholung sicher.

Doch wo nichts ist, merkte ich schnell, ist alles zu tun: Lebensmittel wollten gekauft werden und Speisen zubereitet, Wäsche gewaschen und Betten gemacht. Der Aufwand der Lebenshaltung erschien plötzlich unverhältnismäßig. Wie klappte das im Alltag? Zwar kam ich ein wenig herunter, schließlich entfiel die Pein des Geldverdienens. Doch schon wenige Tage nach Rückkehr war ich gereizter denn je. Dann wurde ich krank.

Vielleicht, meinte eine Bekannte, vielleicht bräuchte ich mal einen Full Reset. Einfach mal hinfahren, wo für alles gesorgt ist? Für alles-alles? Und tatsächlich: Nach einem Jahr voller Baustellen, viele im Haus, eine am Herz, klangen die Wortgruppen nicht mehr schäbig, sondern voller Verheißung: all-inclusive. rundum sorglos. Und so fuhr ich ins Magic Life.

Draußen war es noch finster. Weil ich es ernst meinte mit der Erholung und keine weiteren Ausgaben mehr zu erwarten waren (all-inclusive), nahm ich ein Taxi zum Flughafen, das erste Mal überhaupt. Nachts durch Berlin zu lenken, sagte der Fahrer, sei das Schlimmste auf Erden. Aber immer noch besser als tagsüber. Bis vor kurzem hatte Saber, so hieß der Fahrer, noch Soldaten durch Afghanistan gefahren, von einem Stützpunkt zum anderen. Im Grunde, sagte er und spreizte die Finger vom Lenkrad, sei so eine Militärbasis nicht so viel anders als mein Hotel: ein kleiner, hermetisch abgeriegelter Kosmos, den ich nicht verlassen müsste, um zu überleben. Und womöglich, dachte ich ein paar Stunden später hinzu, auch nicht sollte.

Vom Himalaja bis Hurghada

Pauschalreisen erleben eine Renaissance. Reiseanbieter vermuten, dass es an der Pandemie liegt und am Krieg, an der Inflation und anderen Qualen. Denkbar ist auch, dass die Individualisierung langsam ihren Zenit erreicht: Trifft man seine Nachbarn jetzt schon auf dem Himalaja, warum nicht gleich nach Hurghada fahren. Oft landen die Chartermaschinen in Ländern mit vollwertiger oder zumindest angehender Diktatur, in Tunesien, Ägypten oder Türkei; die Urlauber merken davon nichts. Vom Land sehen sie meist nur das, was am Shuttlebusfenster an ihnen vorbeizieht.

Alexandria, Ägypten, 2018: In ihrer fotografischen Arbeit durchleuchtet die Fotografin Sarah Pannell die Tourismusindustrie.
Alexandria, Ägypten, 2018: In ihrer fotografischen Arbeit durchleuchtet die Fotografin Sarah Pannell die Tourismusindustrie.
Sarah Pannell

In meinem Fall war das eine Mondlandschaft, eine Mischung aus Island und Iran: Felsen und Hügel, an denen nichts wachsen wollte, keine Kiefern, keine Kakteen, rundherum Wasser. Wo die Hügel standen, spielt eigentlich keine Rolle. Der Form halber aber: Es war Fuerteventura, die zweitgrößte der Kanarischen Inseln, westlich von Afrika gelegen und weiter unten, als einer denkt. Ich jedenfalls staunte nicht schlecht, als ich kurz Google Maps öffnet, nicht zur Navigation natürlich, sondern aus reiner Gewohnheit. Von heute an wurde ich navigiert. Wir steuerten ein Resort nach dem anderen an. Als ich die Lider irgendwann wieder hob, hielten wir in einer üppigen Oase: eine frisch renovierte und doch fühlbar in die Jahre gekommene Hotelanlage direkt an einer Klippe. Sie war mir sofort sympathisch. 2000 Menschen konnte der Klub fassen und 300 beschäftigen. Das wusste ich zu diesem Zeitpunkt freilich noch nicht, genauso wenig, warum das Hotel kubanisch aussah. Es war mir auch einerlei. Ich blinzelte in die Sonne. Jemand nahm mir den Koffer ab.

Das Erste, das auffiel: War das Flugzeug noch voller Gehstöcke gewesen (ein Freund wünschte "viel Spaß in der Rheumasonne“), wimmelte es im Hotel von Bällen. Mir war schleierhaft, wo die ganzen alten Menschen hin waren und wie all die Jungfamilien hierhergekommen, doch sie waren es. Mein Zimmer lag erfreulicherweise in einem separierten Bereich. „Pri­vate Lodge. Adults only" stand am Eingang. Ab 16.

Ich schob die Vorhänge zur Seite und starrte reglos, eine Minute oder zwei. Das Meer. Streckte ich den Arm aus wie ein Gendarm, reichte es vom Handballen bis zu den Fingerspitzen. Ich trat hinaus, marschierte ans andere Ende des Balkons und ließ mich auf einen Sessel fallen. Die Suite war reichlich bestuhlt, Sitzgelegenheiten überall. Ich googelte den Wein, der als Gastgeschenk parat stand – 1,45 Euro die Flasche –, und dachte abwechselnd an "White Lotus" und ­"Aftersun".

Zwar hatte ich kaum Appetit, die Grippe steckte mir noch in den Knochen, aber zum Buffet ging ich trotzdem. Es war ein eklektisches Aufgebot an spanischen und internationalen Speisen. Die Gäste mähten sich durch Paella, durch Pizza- und Pastastationen, ich hielt vor einer etwas abseitigen Vitrine. Darin drapiert lagen Melonen, Mangos und Papaya. Ein Mann mittleren Alters, seine Haut noch blass wie meine, blieb ebenfalls stehen. Schulter an Schulter standen wir also da und schauten auf das Obst: Alles war gewissenhaft geschält worden und in mundgerechte Stücke geschnitten, kleine Zangen lagen griffbereit, aber wir verharrten einfach nur schlaff in ihrer Nähe, und aus irgendeinem Grund hatten wir auf einmal Tränen in den Augen. Ich nickte dem Mann kurz zu und ging dann schnell weiter. In einer Holzbox fand ich Kamillentee und stopfte einen Stapel davon in meine Hosentasche.

Sandstrand, Sanddüne, Sand

Was war denn das? Was hatte uns so berührt? Ich saß in der Badewanne und packte ein Heftchen nach dem anderen aus. Während die Teebeutel das Wasser färbten, entspannten sich meine Bronchien. Die Beine zog ich leicht an – wie eine Heuschrecke, dachte ich und hatte den Schwarm am Buffet vor Augen. Lag darin die Anziehungskraft von All-inclusive, die Magie von Magic Life? Wollten wir einfach nur, dass uns jemand Obst aufschneidet und unaufgefordert hinstellt?

Es wäre ein guter Zeitpunkt gewesen, um über die Dürre auf der Insel nachzudenken, darüber, wie das Trinkwasser in manchen Regionen oft nur stundenweise fließt, während es in den Resorts nur so aus den Regen­duschen schießt. Ich gurgelte einen Schluck Badewasser und lauschte ins Nichts. Eine nächtliche Brise trug Musikfetzen vom Pool herauf, "Sky and Sand" vermischte sich mit dem Rauschen der Brandung und dem Murmeln im Schlafzimmer; auf Arte lief eine Sendung über Pluto. Es wurde Abend, und es wurde Morgen: erster Tag.

Als ich um Punkt elf Uhr in die Lobby trat, nippten schon ein paar an ihren Begrüßungsdrinks. Sally, eine Tui-Mitarbeiterin mit bleichem Haar, hielt eine kurze, aber flammende Rede auf die Ausflugsmöglichkeiten: Da waren Sandstrände und Sanddünen, andere Sandstrände und auch eine Aloe-Vera-Farm. Ich hörte mit wachsender Begeisterung, was ich alles sicher nicht machen würde. Der Bub neben mir schaute zur Decke. Dann schloss er die Augen.

Darauf einen "No More Stress"

Nach dem Cava spazierte ich durch die Anlage. Überall wuchsen Palmen und Kakteen, Hibiskus und Bougainvillea. Statt Rindenmulch, ich trat näher heran, bedeckte die Beete Vulkangestein, dazwischen wanden sich Schläuche. Der Anblick stimmte mich kurz nachdenklich, doch dann entdeckte ich diese Blume, die aussieht wie der Kopf eines Hahns. In freier Natur! Unglaublich. Am Pool angelangt, es gab sechs oder sieben, nahm ich liegend meinen Posten ein.

Am Pool angelangt, es gab sechs oder sieben, nahm ich liegend meinen Posten ein.
Am Pool angelangt, es gab sechs oder sieben, nahm ich liegend meinen Posten ein.
Arnhel de Serra

Die Neuankömmlinge erkannte man daran, dass sie versuchten, das Haus zu schlagen. Ständig sprangen sie auf und holten sich Sandwiches oder Cocktails, die Piña Canaria hießen, Gin Collins oder No More Stress. Jene Gäste, die schon länger hier waren, machte ich an ihrer Bräune aus. Sie sagten auch nicht mehr "Montag" oder "Dienstag", sondern "Latino Party" und "Karaoke Night", meist mit deutschem Akzent, manchmal mit britischem. Streiten sah ich niemanden. Wollte das eine Kind Hotdogs und das andere Rührei – kein Problem.

In den ersten Stunden streiften mich noch Gedanken oder der Drang, E-Mails zu checken. Wie üblich schickte ich die zwei Fotos in die Familien-Whatsapp-Gruppe: eines vom Buffet, eines vom Klo. Dann legte ich das Telefon unter die Liege, Display nach unten, und ließ den Kopf auf die Seite sacken. Rechts von mir döste bereits eine Frau. Ihr Gesicht war gescheckt, als hätte sie Sonnencreme aufgetragen, aber nicht verteilt, und auch mir wurde bald jede Regung lästig. Der Gärtner streichelte die Katze mit einer Pusteblume. Unser Tagwerk war vollbracht.

Das Erreichen des Nirwana

So vergingen die Tage. Ich aß und schlief, der Wind wehte und die Sonne schien, ein jeder nach seiner Art. Ab Tag drei, inzwischen war ich völlig gesund, tangierte mich nichts mehr: nicht das Mädchen, das seine Gabel gern auf die Fliesen fallen ließ, nicht die Hits, die nachmittags zur Aquafitness aufpeitschten, nicht einmal die Animateurin, die "Push the water" schrie, als wolle sie mit jedem Wort auch eine Mücke aus ihrem Mund schleudern.

Ab und an überkam mich ein komisches Gefühl. Dann ging ich zum Tennis, in die Sauna oder besprach mit Andreas und Kerstin aus Schleswig-Holstein, welcher der Kuchen den Gaumen heute am besten verleimt. Ich freundete mich mit den Damen vom Guest-Service an, Maria und Jenny, und plauderte mit dem Manager. Er lebte mit seinen drei Kindern im Klub – übrigens die Kopie eines Hotels in der Karibik –, doch aß nur selten im Restaurant. Es schmeckte ihm. Seine Kinder sollten nur nicht lernen, dass dies das Leben sei: nichts geben, nur nehmen.

Am vierten Abend dann erreichte ich das Nirwana. Hatte ich anfangs noch pedantisch mehrere Teller hintereinander geholt, schöpfte ich jetzt das Letscho auf den Lachs und den Lachs auf den Salat. Ich genoss Weißwein aus warmen Gläsern und prostete dem Mädchen am Nebentisch zu. Es trank blaues Eis aus einer Suppenterrine, setzte kurz ab, zog den Rotz bedeutsam hoch und vergrub das Gesicht wieder im Sirup. Es hätte ewig so weitergehen können.

Ich verengte die Augen und sah dabei zu, wie er Rum in ein Glas goss und darüber Zitronensaft kippte wie Dünger.
Ich verengte die Augen und sah dabei zu, wie er Rum in ein Glas goss und darüber Zitronensaft kippte wie Dünger.
Getty Images/iStockphoto

Am nächsten Morgen aber erwachte ich früh und mit einem unwohlen Gefühl. Ich klapperte ab: Bekam ich meine Tage? Nein. War ich einsam? Nein. Auch Mangelernährung war ausgeschlossen. Ich tastete Deadlines und Verflossene ab wie eine Zunge faule Zähne. Doch nichts davon schmerzte. Es ging mir gut und trotzdem schlecht.

Ich ging an die Poolbar und bestellte einen Americano, auf Englisch, und sicherheitshalber noch einen Lemonjito. Der Barkeeper antwortete auf Deutsch. Ich verengte die Augen und sah dabei zu, wie er Rum in ein Glas goss und darüber Zitronensaft kippte wie Dünger. Fröhlich schob er das Getränk über den Tresen und lächelte mich an, unbeirrt, als lächelte ich zurück.

Auf der Terrasse nahm ich einen vorsich­tigen großen Schluck. Antiseptisch. Hatte ich bei Ankunft den Geschmack verloren? Und auch die Orientierung? Ich schwebte in einem luftleeren Raum, so kam mir vor, als wäre jede Kausalität verpufft: Nichts schien mehr Folge einer Ursache zu sein, nichts stand im Ver­hältnis zu irgendwas. Diese bedingungslose Freundlichkeit, diese heile Welt – wahrscheinlich waren Adam und Eva gar nicht aus Eden geworfen worden, dachte ich trotzig, sondern freiwillig gegangen. Der Gedanke an einen weiteren Tag im Paradies legte sich um mich wie ein klammes Handtuch. Ich sah zur Theke. Mit der einen Hand fingerte ich nach dem Strohhalm und kippte mit der anderen, als sich der Barmann endlich wegdrehte, den Drink ins Gras.

Sägen am System

Von da an war Essen nur mehr Nahrungsaufnahme und Freizeit eine unverbindliche Übung. Noch zweimal schlafen, noch einmal.

Der Flug ging um 12.25 Uhr. Zwei Stunden vorher stand ich am Gate. Ich freute mich derart auf Montag, dass ich alles andere vergaß. Und so kam mir weder in den Sinn, nach Gründen für den plötzlichen Eifer zu suchen, noch eins und eins zusammenzuzählen: Der Zweck der Pauschalreise besteht nicht in festen Mahlzeiten, natürlich nicht, sondern im Festigen der Moral. Wäre ich eine Woche länger geblieben, ich hätte begonnen, am System zu sägen. Aber so saß ich am Flughafen und schälte eine Orange. Die Finger gruben sich ins Fruchtfleisch, das Weiße schmerzte unter den Nägeln. Es war mühsam. Ich ­wollte mehr. (Sara Geisler, 29.5.2023)