Die Frage nach der technischen Reproduzierbarkeit eines Kunstwerks stellt sich mit der künstlichen Intelligenz neu – und weit radikaler als bisher.
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Ein Bekannter wollte unlängst ein Huhn in Salzkruste à la Paul Bocuse kochen. Dafür braucht man ein Bressehuhn und kiloweise Meersalz. Als er Letzteres in der Auslage eines Feinkostladens entdeckte, ging er hinein und fragte, ob man denn vier, fünf Kilo davon habe. Daraufhin sah ihn der Verkäufer verblüfft an und meinte: "Warum? Wollen Sie ein Meer eröffnen?"

Ein Meer ganz anderer Natur ist in den letzten Jahrzehnten über die Welt geschwappt, ein Meer an Daten und neuen Möglichkeiten. Vor 40 Jahren war es unvorstellbar, online einzukaufen. Autos besaßen keine Navis, dafür quollen Landkarten aus dem Handschuhfach, man unterhielt sich über das Fernsehprogramm, und ein vierundzwanzigbändiges Lexikon gehörte zur Grundausstattung jedes Haushalts.

Veränderung durch Technologie

Dann hat das Internet mit rasanter Geschwindigkeit die Welt verändert und zu einem Dorf gemacht, in dem jeder jederzeit alles über alle wissen kann. Vor 50 Jahren galten Autotelefone, groß wie Waschmittelkartons, als Nonplusultra, es gab öffentliche Telefonzellen, und Texte wurden mit Schreibmaschinen und Durchschlagpapier geschrieben. Kaum vorstellbar, was in den nächsten 50 Jahren alles möglich sein wird.

Die neue Technologie verändert alles, auch die Kunst. Ohne Erfindung der Fotografie wäre kein Impressionismus entstanden und keine daraus resultierende Moderne. Radio und Tonträger haben dem Live-Erlebnis der Musik die Einzigartigkeit genommen, und auch die Literatur hat sich dank neuer Textverarbeitungsprogramme massiv verändert. Gegenwärtig stehen wir mit der künstlichen Intelligenz an einer nächsten Schwelle.

Gesellschaftliches Korrektiv

Bald können Maschinen Bilder malen, die als Rubens oder Bacon durchgehen, sie können Beethovens zehnte Sinfonie vollenden, einen Stephen King schreiben oder ein Foto vom Papst generieren, wo der Heilige Vater auf der Kuppel des Petersdoms in Unterhosen einen Handstand macht und Hostien auf der Nase balanciert. Bedeutet dies das Ende aller Gewissheit, wo wir nicht mehr wissen, was wirklich geschehen ist, was künstlich generiert? Ist damit auch alle menschengefertigte Kunst obsolet?

Kunst verleiht den Dingen Bedeutung, sie kann unterhalten und als gesellschaftliches Korrektiv fungieren. Der Künstler ist Schamane wie Hofnarr. Man attestiert ihm wenn schon nicht Genialität so doch ein Sensorium für aktuelle Entwicklungen. Kann das je von einer Maschine ersetzt werden?

Nicht ausrechenbar

Natürlich nicht, möchte man beruhigen. Künstliche Kunst ist zwar irgendwann besser und effizienter als menschliche, aber gerade Kunst ist nicht ausrechenbar, wird erst dann zum Erlebnis, wenn sie Fehler und Leerstellen hat, brüchig ist und imperfekt. Eine Maschine kann Bachs Goldberg-Variationen fehlerlos spielen, aber das wird uns niemals so ergreifen wie Glenn Gould – hoffe ich zumindest. Unweigerlich stellt sich die Frage: Wie empfindsam sind wir noch? Spüren wir einen Unterschied? Effizienz geht immer auf Kosten der Zwischentöne und Nuancen, ja, auf Kosten der Menschlichkeit.

Selbst wenn es uns bei den Erzeugnissen der KI bald die Zehen aufrollt, wird ihr der menschliche Faktor fehlen. Ein Künstler hat eine Biografie, mit der man sich identifizieren kann. Wenn ich einen echten Picasso sehe, weiß ich, dass der Meister leibhaftig davor gesessen ist, vielleicht seine mit Rotwein versetzten Speicheltröpfchen auf der Leinwand gelandet sind. Bei einem Geigenvirtuosen erahne ich die Abgründe seiner Seele, ihre Wunden.

Schöne neue Kunst? Ein Robotermaler generiert mit der KI Midjourney ein Gemälde.
DER STANDARD/Pichler/Midjourney

Sakrale Aura

Unsere Vorstellung von Kunst ist verknüpft mit der sakralen Aura von etwas Echtem, Authentischem. Wir wollen die Luft der Schöpfer atmen, ihre DNA spüren. Nachbildungen wie zum Beispiel Hallstatt in China oder eine Sphinx im Vergnügungspark empfinden wir als kitschig, lächerlich. Chinesen offensichtlich nicht. Nein, das stimmt so nicht. Die meisten Chinesen haben keine Wahl und oft schlechte Lebensbedingungen, die eine Reise zum Original nicht zulassen, weshalb sie sich mit dem Duplikat zufriedengeben müssen.

Aber ist die Anbetung des Echten nicht ein Aberglaube? In der frühen Neuzeit wurden vom Henker Locken der Exekutierten als Glücksbringer verkauft, dem Blut von Geköpften schrieb man Heilkräfte gegen Epilepsie zu, im 19. Jahrhundert hat ein späterer Ministerpräsident Spaniens der ausgestellten Leiche Kaiser Karls des Fünften einen kleinen Finger ausgerissen. Allerlei Körperteile von Berühmtheiten geistern durch skurrile Sammlungen: Schillers Schädel, Napoleons Penis, Einsteins Hirn. Die findige Reinigungskraft eines Linzer Hotels soll sogar das Badewasser Hitlers in Fläschchen abgefüllt und verhökert haben, quasi als Lourdes-Wasser für Nazis.

Wahrscheinlichkeiten statt Kunst

So etwas gibt es von Computern nicht. Noch ist die KI nicht fähig, kreativ zu sein. Sie kann Wetterphänomene und Börsenkurse pro­gnostizieren, Kunststile kopieren, aber etwas genuin Neues erschaffen kann sie nicht. Sie kreiert keine neuen Erfahrungen, sondern rechnet Wahrscheinlichkeiten aus. Die KI versteht keine Ironie, keinen Humor, weshalb sie einen Satz wie den eingangs zitierten "Wollen Sie ein Meer eröffnen" auch nicht so schnell ausspucken wird. "Wollen Sie ein Meer eröffnen" ist ein schönes Beispiel für den österreichischen Schmäh, der bereits in Deutschland kaum verstanden wird und praktisch nicht zu übersetzen ist. Der Witz würde mit keinem anderen Verb funktionieren.

Die neue Welt ist humorlos. Wo es geht, werden Menschen eingespart. Selbstfahrende Busse, vollautomatisierte Supermarktkassen – bei Hotlines von Fluglinien einen echten Menschen zu erwischen gleicht einem Lotteriegewinn. Unlängst war ich in einem Hotel in Leipzig untergebracht. Zum Einchecken gab es vollautomatisierte Terminals. Nach einer endlosen Prozedur kam aber keine Zimmerkarte, sondern eine Fehlermeldung. Dem überforderten Nachtportier – es war kurz vor Mitternacht, und ich war hundemüde – fehlte das Passwort, um sein abgestürztes Computersystem neu zu starten. Die Telefone seiner Kollegen wurden nicht abgenommen, er hat auf Sächsisch gejammert und geflucht: "Eiverbisch nochemal. Gänsefleisch ran? Wie erreiche ich jetzt die Schnarchhoken?"

Der Lauf der Welt

Letztlich dauerte es zwei Stunden, bis ich in das Zimmer konnte. Früher, im technologischen Paläolithikum, als es noch richtige Schlüssel mit schweren Messinganhängern und weinroten Kordeln gegeben hat, hätte der Vorgang keine fünf Minuten gedauert. Die Welt wird unpersönlicher und würde­loser, weil alles nur noch darauf angelegt ist, effizient zu sein.

Bei den Inuit heißt es, man darf am Lauf der Welt zwar teilhaben, ihn jedoch nicht verändern. Aber genau das machen wir. Die Skepsis vor dem Fortschritt ist so alt wie die Menschheit selbst. Bestimmt gab es schon bei der Erfindung des Rades Skeptiker, die eine unmittelbare Degeneration des Homo rotatus befürchteten. Der von Profitgier getriebene Mensch ist selten gewillt, den Fortschritt zum Wohle aller zu nutzen. Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum manche Bahnhöfe kilometerweit vom Stadtkern entfernt sind? Weil man mit expansivem Wachstum gerechnet hat? Nein, weil es im 19. Jahrhundert Fuhrwerksunternehmer gegeben hat, die aus Angst um ihr Geschäft den Leuten eingeredet haben, dass die funkensprühende Eisenbahn Brände verursache. In Amerika gibt es kaum noch Züge oder Straßenbahnen, weil Automobilkonzerne ganze Strecken aufgekauft und – besonders perfide – verfallen lassen haben, damit sie mehr Geschäft machen. In Afrika hat man Müttern lange eingeredet, Milchpulver vom Großkonzern sei für Säuglinge gesünder als Muttermilch. Wenn es um Profit geht, ist der Mensch rücksichtslos. Hans Meyer, Abkömmling der Lexikonverlegerfamilie, hat bei seiner Besteigung des Kilimandscharos 1889 einfach die Spitze mitgenommen, um sie dem deutschen Kaiser zu schenken. Dass Eingeborne auf dem Berggipfel den Sitz der Götter wähnten, war ihm egal.

Demokratisches Medium

Das Internet ist ein demokratisches Medium. Theoretisch sollte die freie Verfügbarkeit des Wissens die Menschen klüger machen. Das Gegenteil ist der Fall. Die durchschnittliche Intelligenz in den Industrieländern nimmt ab. Wie das möglich ist? Allen geht es um Aufmerksamkeit und Clicks. Fake News, Clickfarmen, dazu die Bereitschaft des Menschen, sich mit Nonsens ablenken zu lassen.

Warum sollte es mit der KI anders sein? Bald wird sie wirklich gute Unterhaltung produzieren. Aber Musik, bei der man eine Seele spürt? Kunst, die nicht bloß Schönheit feiert und amüsiert, sondern auch die großen Fragen stellt? Echte Gefühle zu einem künstlichen Stück? Warum nicht? Die Lernfähigkeit der KI ist so fantastisch, dass sie bald richtig gute Bücher schreiben und wunderbare Filme produzieren wird – ohne wirkliche Schauspieler. Vielleicht wird es personalisierte KIs geben, die so erfolgreich sind wie manche Influencer? Künstliche Künstlerpersönlichkeiten? Schon jetzt sind manche Artisten durchdesignte Produkte aus der Marketingabteilung. Schon jetzt ist manch Künstler ein Konzern.

Franzobel, geb.1967, lebt als Schriftsteller in Wien. Im Jänner ­erschien sein neuer Roman "Einsteins Hirn" (Zsolnay).
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Massentauglichkeit

Aber was wird sich letztlich durchsetzen? In der Kunst sind es langfristig die Unnachgiebigen, die Beharrlichen, Unangepassten, und nicht selten auch die Armen, zunächst Erfolglosen, die bleiben. Aber in der KI? Die Algorithmen werden das Massentauglichste kreieren, nicht das Bressehuhn à la Bocuse, sondern McDonald’s-Burger oder ein aus Spritzbeton und Polyester geformtes Hallstatt. Eine von Menschen erdachte KI bildet die Welt ab, wie sie für die Menschen ist: rational, kausal, zielstrebig. Das intuitive, am Gefühl orientierte Denken wird dabei nicht erfasst. Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt. Ein sehr männlicher Gedanke. Wird die von Formulierbarkeiten abhängige KI also das auf Eroberung und Unterwerfung abzielende Patriarchat stärken?

Der neue Vatikan im Silicon Valley verkündet als Heilsversprechen das technologische Paradies auf Erden, aber der Grundsatz "Macht euch die Erde untertan" ist derselbe. Zuerst ist der Fortschritt eine Erleichterung, aber irgendwann wendet sich der Teufelspakt gegen uns, haben wir dank der freiwilligen Abhängigkeit alles verlernt, sind verkümmerte Bedienauguste. Schon jetzt kann kaum mehr jemand eine Landkarte lesen. Was aber bleibt vom Menschen, wenn er nur noch Benutzer und Konsument ist? Ein lebensunfähiger Kretin, ein Konsumwastl.

Was ist menschlich?

Die KI wirft die Frage auf, was ist menschlich? Wir beschreiben die Natur aus der einzigen uns möglichen Perspektive, der menschlichen. Alles, was wir wissen, ist menschengedacht, erlebt mit einem Körper, der verletzlich, vergesslich und triebgesteuert ist. Die KI ist dagegen körperlos. Wie wird sie Natur beschreiben? Sie, die sich nicht reproduzieren muss, weil sie unsterblich ist.

Diesmal ziehen keine Kreuzritter los, um mit dem Schwert zu missionieren, sondern künstliche Intelligenzen, denen, sobald sie ein eigenes Bewusstsein haben, alles Biologische nutzlos erscheinen wird. Möglich, dass in ein paar Hundert Jahren Maschinen die Welt regieren. Die brauchen weder Luft noch Wasser und haben alle Zeit, das Universum zu erobern.

"Schauen wir einmal, was geht"

Unser Horizont endet da, wo unser Horizont endet, was bei manchen erstaunlich früh passiert, bei anderen überraschend weit geht. Wenn man sich fragt, warum machen wir so etwas wie künstliche Intelligenzen überhaupt, kommt einem zuerst die Horizontverschiebung in den Sinn, dann der glühende Freund eines Ex-Kanzlers: "Boah, so weit sind wir ja noch nie gegangen. Aber es ist genial. Schauen wir einmal, was geht." Doch die menschliche Hybris allein erklärt nicht alles. Künstliche Intelligenzen sind verwandt mit der vermuteten Urintelligenz, die wir gemeinhin Gott nennen. Sie überwinden die Sterblichkeit und können somit auch uns zeitlich wie räumlich unbegrenzt verbreiten. Vielleicht werden KIs den Menschen verehren, möglich aber auch, dass sie in uns dasselbe sehen wie wir in urzeitlichen Schlammwürmern. Ob diese Intelligenzen dann noch Kunst erzeugen? Maschinen haben kein Gewissen, keine körperlichen Vorbilder, keinen Ödipus-Komplex und kein Bewusstsein der eigenen Vergänglichkeit. Können sie wissen, wie es sich anfühlt, an einem heißen Tag in einen See zu springen oder sich am Heiligen Abend mit der Familie den Bauch vollzuschlagen? Können sie die Lust auf ein frischgezapftes Bier begreifen, nachdem man vier Stunden mit dem Rad gefahren ist? Wie sollen sie Lust am Tabubruch empfinden? Etwas verstehen, das sich nicht beschreiben lässt?

Vielleicht ist der Mensch das einzige Wesen im Kosmos, das Kunst produziert. Die ältesten Kunstwerke (Höhlenmalereien) sind 30.000 Jahre alt. Was ist Kunst? Eine schamlose Schönheit, die das Leben feiert, poetisch wie senkrecht schlafende Pottwale, aber auch kompromisslos wie Werner Herzog und exzentrisch wie Klaus Kinsky, oder radikal ihren Weg gehend wie Artemisia Gentileschi. Was Kunst aber nie sein kann, ist demokratisch. Daher wird sie nicht nur von der KI bedroht, sondern auch von der Moral. Kunst muss ein Freiraum bleiben, wo die politische Korrektheit erst einmal nicht gilt. Kunst muss alles dürfen, sonst ist sie keine. Kunst kann alles denken, auch die Kraft der Liebe.

Was Identität ist

Ohne Kunst wäre das Leben banal, der Mensch ein Nutztier im Warenkreislauf. Durch die Kunst lernen wir die Welt kennen, und was man kennt, kann man nicht mehr respektlos behandeln. Was ein Herz hat, ist verletzbar, und Kunst hat eine Seele, weil der Mensch an ihr die Beseeltheit der Natur begreift. Müssen wir also Angst vor der KI haben? Sie stellt infrage, was wir sind. Ergebnis der Sozialisation? Das kurzlebige Resultat von gefütterten Daten? Oder doch beseelte Wesen? Sie fragt: Was ist der Mensch? Was seine Identität? Wo unterscheidet er sich noch von einer Maschine? Der Mensch ist fehlerhaft, unergründlich und intuitiv. Sein Hirn hat ein Herz und sein Herz vielleicht sogar eine Seele. Das macht ihn so einzigartig – zumindest aus Menschensicht. Aber jetzt freuen wir uns erst einmal auf das, was kommt.

Und wenn jemand fragt: "Warum? Wollen Sie ein Meer eröffnen?", schreien wir laut: Ja. Warum denn nicht? (Franzobel, 29.5.2023)