Eigentlich soll das Gespräch mit Holger Bonin in seinem neuen, noch nicht ganz eingerichteten Büro stattfinden. Doch der Tag ist sonnig, und der Garten des Instituts für Höhrere Studien (IHS) im Palais Strozzi in der Wiener Josefstadt lockt. Das Gespräch über Inflation, hohe Mietpreise und die Vorteile der kalten Progression findet also unter Bäumen und gleich neben dem Springbrunnen statt. 

STANDARD: Sie sind gerade von Bonn nach Wien übersiedelt. Der "Wiener Zeitung" sagten Sie, Sie hörten gern Leuten im Kaffeehaus zu. Welche Themen beschäftigen die?

Bonin: Inflation ist ein großes Thema und Polarisierung. Ich habe das Gefühl, dass viel über Verschwörungstheorien gesprochen wird – aber das kann auch Zufall sein.

STANDARD: Kommt auf das Kaffeehaus an, wahrscheinlich.

Bonin: Ja – wobei ich jetzt in Hietzing wohne, und da sind die Themen im Kaffeehaus wieder andere. Aber natürlich ist das jetzt nicht der effizienteste Weg, sich Gedanken zu machen.

STANDARD: Gibt es bei den Themen Unterschiede zwischen Österreich und Deutschland?

Bonin: Ja. In Österreich beschäftigt die Inflation die Leute viel mehr, daher ist auch die politische Diskussion stärker. Wobei Deutschland jetzt in eine technische Rezession gerutscht ist und auch dort die Inflation zu spüren ist. Und man darf nicht vergessen: Wer wie stark von der Inflation betroffen ist, lässt sich nicht am Verbraucherpreisindex ablesen. Denn im Warenkorb haben Dienstleistungen, Restaurantbesuche, Hotelierleistungen einen großen Anteil, und das treibt die Inflationsrate in die Höhe. Gleichzeitig sind diese Dienstleistungen aber für viele Menschen gar nicht relevant, weil sie sich Urlaube oder Restaurantbesuche gar nicht leisten können. Für Menschen im untersten Einkommensviertel, für armutsgefährdete Menschen, stellt sich diese Frage gar nicht. Aber von der Inflation sind sie trotzdem stärker betroffen, weil sie mehr von ihrem Einkommen für den Konsum ausgeben müssen. Man darf die Inflation nicht kleinreden, aber zum Teil sind manche Leute stärker alarmiert, als sie es sein müssten, weil sie durchaus in der Lage sind, die Situation zu meistern.

STANDARD: Alles halb so schlimm?

Bonin: Nein, das meine ich nicht. Die Inflation wird die Bürgerinnen und Bürger etwas kosten, es wird reale Einkommensverluste geben, die man nicht kompensieren wird. Aber die Frage ist, ob Einkommensschwache oder Einkommensreiche von diesem Realeinkommensverlusten getroffen sind. Die Tatsache, dass der Tourismus floriert, zeigt ja, dass sich Menschen Urlaube leisten können, bei ihnen muss man nichts kompensieren. Anders ist das bei Menschen, die nicht wissen, wie sie ihre Miete oder ihre Lebensmittel bezahlen sollen.

STANDARD: Sie sind aber gegen Eingriffe in die Mietpreise. Warum?

Bonin: Es ist immer ein Problem, in Preise und Märkte einzugreifen, weil sich das auf das Angebot auswirkt. Mietpreisgrenzen nützen nichts, wenn in der Folge weniger Wohnungen auf den Markt kommen und die verbleibenden noch teurer vermietet werden. Besser ist eine gezielte Unterstützung derer, die sich die Mieten nicht mehr leisten können.

STANDARD: Der Staat könnte doch die Privaten ersetzen und selbst Wohnungen bauen.

Bonin: Ja, wenn genug Bauland da ist. Und der Staat kann für seine Wohnungen auch geringe Mietpreise verlangen, kann sogar negative Renditen auf sich nehmen – aber am Ende müssen auch diese Rechnung die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler begleichen. Mit diesem Markteingriff würde der Staat dafür sorgen, dass Private ihre teureren Wohnungen nicht mehr vermieten können, und am Ende müsste der Staat den ganzen Wohnungsmarkt regulieren. Das ist ein extrem kostenintensives Instrument, das in die Breite wirkt. Machbar wäre das, wenn der Staat diese Methode beim sozialen Wohnungsbau anwendet.

STANDARD: Die Gemeinde Wien hat auch die Mieten erhöht. Ökonomisch klug?

Bonin: Kommt drauf an, aus welchem Grund das geschieht: Wird die Miete erhöht, weil es reale, inflationsbedingte Kostensteigerungen gibt oder weil die Mietpreise indexiert sind? In dem Fall sehe ich das problematisch. Denn diese automatischen Wertsicherungsklauseln in den Mietverträgen orientieren sich am Verbraucherpreisindex, und das ist nicht plausibel, das ist nicht der richtige Index.

Inflation, Wirtschaftsforscher, E-Autos
Holger Bonin im Gespräch
Der künftige IHS-Chef Holger Bonin hält die Indexierung von Mieten an die Inflationsrate für falsch.
Regine Hendrich

STANDARD: Welchen Maßstab müsste man anlegen?

Bonin: Da muss man prüfen, mit welchen Preissteigerungen die Vermieterinnen und Vermieter tatsächlich konfrontiert sind, und das wird bei einer großen Wohnbaugesellschaft anders sein als bei einem privaten Vermieter. Er hat durch diese automatische Mieterhöhung dank Wertsicherungsklausel einen realen Einkommenszuwachs, denn für ihn wird die Wohnung, die er vermietet, nicht jedes Jahr um die Verbraucherpreisinflation teurer. Und selbst wenn die Kosten für Wohnungen der öffentlichen Hand steigen, kann man die Anpassungen strecken, zum Beispiel auf zwei Jahre. Das federt soziale Härten ab.

STANDARD: Die Regierung hat zwar keine Mietpreisbremse umgesetzt, dafür aber sehr viel Geld an alle verteilt. Sie sagen, es muss Verluste geben, die Regierung hat geglaubt, man könne alles kompensieren.

Bonin: Diese Idee ist sicher nicht richtig. Man hat wohl auch die unterstützt, die es nicht gebraucht hätten, weil man die bedürftigen Gruppen nicht richtig identifizieren konnte. An den Zahlen des IHS erkennt man, dass die Inflation für Personen am unteren Einkommensrand gut ausgeglichen wurde, aber auch dort gibt es Unterschiede. Nicht alle haben mit diesem Geld die gestiegenen Lebensmittelpreise abgedeckt, sondern sie haben damit als Erstes ihre Schulden bezahlt – was ihnen im Alltag gar nichts hilft.

STANDARD: Die überförderten Haushalte könnten das Geld ja auch spenden …

Bonin: Ja, dafür könnte man durchaus Anreize setzen. Aber es ginge auch anders: Man müsste darüber nachdenken, den Einkommensstarken wieder etwas wegzunehmen. Der deutsche Sachverständigenrat hat angeregt, die Anpassung an die kalte Progression vorübergehend auszusetzen.

STANDARD: Viel Spaß, die kalte Progression wurde in Österreich gerade erst abgeschafft.

Bonin: Ich weiß, aber es geht darum, diese Solidarität durch Spenden, von der Sie gesprochen haben, zu forcieren, diese Zielgruppe zu erreichen.

STANDARD: Warum keine Steuererhöhung?

Bonin: Weil es darum ginge, die Überförderung rückgängig zu machen und das mildeste Instrument dafür zu finden. Und wenn man die Anpassung an die kalte Progression aussetzt, träfe das die unteren Einkommen gar nicht, weil da keine Steuern anfallen. Und am oberen Rand würde man denen, die Förderungen bekamen, diese wieder wegnehmen. Man könnte auch darüber nachdenken, die Förderungen als Einkommen zu werten und zu besteuern. Das hätte denselben Effekt und den Charme, dass man das temporär tun könnte. Natürlich sehe ich, dass das politisch gesehen nicht realistisch ist – aber man sollte trotzdem in diese Richtung denken.

STANDARD: Sie sprechen von Überförderung, aber in Österreich haben die Experten im vergangenen Jahr kaum davor gewarnt. Wie werden Sie agieren?

Bonin: Natürlich sollen Expertinnen und Experten warnen, wenn Sie sehen, dass etwas falsch läuft. Aber auch denen fehlt in neuen Situationen zunächst die Orientierung, da agiert man lieber vorsichtig.

Kurz Sebastian
Kurz stolz
Das türkis-grüne Motto unter Kanzler Sebastian Kurz lautete "Koste es, was es wolle".
www.corn.at, Heribert Corn

STANDARD: Aber der Satz "Koste es, was es wolle" müsste doch Experten sofort auf den Plan rufen, denn das kann ja nicht funktionieren.

Bonin: Ja, das kann es natürlich nicht geben, das ist ähnlich wie "Wir schaffen das". Aber solche starken Sätze der Politik dienen dazu, Unsicherheiten der Bevölkerung zu reduzieren.

STANDARD: Die Chefs der beiden führenden Wirtschaftsforschungsinstitute Wifo und IHS, auch Ihr Vorgänger, haben keine Scheu, bei Pressekonferenzen und Hintergrundgesprächen der Regierung dabei zu sein, etwa, wenn sie neue Vorhaben vermarktet. Fehlt es da nicht an Distanz? Wie werden Sie Ihre Rolle anlegen?

Bonin: Natürlich soll man mit der Politik Hintergrundgespräche führen, und das werde ich auch tun. Gemeinsame Pressekonferenzen gehen schon, aber nur, wenn es etwa um eine Studie des IHS geht. Da kann die Ministerin oder der Minister, die oder der die Studie in Auftrag gegeben hat, dabei sein. Aber natürlich darf man sich nicht für die Meinung der Ministerin oder des Ministers instrumentalisieren lassen. Daneben gibt es eben auch die Beratung für Ministerien durch Wirtschaftsforschende, und da ist klar, dass sich die mit ihrer Empfehlung nicht immer durchsetzen, weil Minister unter politischen Zwängen stehen. Wenn dann etwas Falsches rauskommt, müssen die Wirtschaftsforscher öffentlich widersprechen.

STANDARD: Das werden Sie tun?

Bonin: Ja.

STANDARD: Die SPÖ blockiert Klimagesetze, die eine Zweidrittelmehrheit bräuchten, sie argumentiert, dass sie so eine definitivere Inflationsbekämpfung der Regierung durchsetzen will. Wie sehen Sie das?

Bonin: Da geht es um langfristige Weichenstellungen, die die EU vorgibt, daran kommen wir gar nicht vorbei.

STANDARD: Österreich hat sich verpflichtet, bis 2040 klimaneutral zu werden. Wirtschaftskammerchef Harald Mahrer sagt, das überfordere die Leute. Das Wifo dagegen rechnet vor, dass wir schon jetzt weit hinterherhinken. Wenn man dieses Ziel erreichen will, muss man relativ radikal sein, oder?

Bonin: Ja. Und wie bei der Inflation ist da die Frage, wer das nicht stemmen kann. Diese Leute müssen wir früh identifizieren, und da muss der Staat sozial kompensieren. Aber auch da gilt: Wir können das nicht vollständig ausgleichen, es wird Wohlstandsverluste geben. Aber noch größere Wohlstandsverluste wird es geben, wenn wir die Dekarbonisierung nicht schaffen. Vielleicht werden die Leute auf weniger Quadratmetern wohnen, kleinere Autos fahren müssen – auch das ist ein Wohlstandsverlust.

STANDARD: Wie sehen Sie denn den Protest der Klimakleber?

Bonin: Das ist eigentlich keine Frage, die ein Ökonom beantworten sollte. Dieser Protest soll ein Weckruf für die Bürgerinnen und Bürger sein, deren Akzeptanz für Klimamaßnahmen steigen soll. Möglicherweise hilft angesichts steigender Aversion der Bevölkerung diese Form des Protests aber der Politik nicht, ihre Maßnahmen durchzusetzen. Denn die muss nun auf die Form des Protests eingehen, statt zu schauen, wie sie unpopuläre Maßnahmen wie etwa Tempolimits umsetzen kann.

E-Auto, Parkplatz
E-Autos
Der Zug in Richtung E-Autos ist laut Bonin bereits abgefahren.
IMAGO/Jochen Eckel

STANDARD: Noch zur Zukunft des Autos. In Deutschland wie in Österreich wird über das E-Auto diskutiert oder über Wasserstoffantrieb, in der Industrie scheint die Entscheidung fürs E-Auto aber schon gefallen zu sein.

Bonin: Ja, das scheint so zu sein. Der Staat sollte bei der Anschubfinanzierung von Schlüsseltechnologien schon eine Rolle spielen, da muss er Entscheidungen treffen. Aber bei der E-Mobilität scheint der Zug abgefahren zu sein. Das wird wahrscheinlich die Technologie sein, die sich durchsetzt. Und da jetzt von Technologieoffenheit zu sprechen und auch noch den Wasserstoffantrieb fördern zu wollen, dafür wird es zu spät sein. Industrie und Verbraucherinnen und Verbraucher entscheiden das, und es setzt sich jenes System durch, das den Markt schneller durchdringt, das muss nicht die bessere Technologie sein. Möglicherweise machen wir dabei nicht das Optimale, aber wir kommen schneller voran.

STANDARD: Noch eine letzte Frage an den Deutschen in Wien: ihr Lieblingsplatz in Wien?

Bonin: Ich entdecke die Stadt gerade erst. Ich kenne schon ein paar schöne Plätze, den Schlosspark Schönbrunn etwa, die Altstadt, aber auch die Josefstädter Straße gefällt mir sehr: nicht weil das IHS da ist, sondern auch wegen der interessanten Mischung aus altgewachsene Strukturen, jungen Menschen und den entsprechenden Angeboten. (Renate Graber, András Szigetvari, 30.5.2023)