Sexlos und prüde sei die Generation Z, mehr noch, sie befinde sich gar inmitten einer "Sex-Rezession". So die Befunde manch englischsprachiger Autor:innen, die die vermeintliche Enthaltsamkeit der Jugend ergründen. Material lieferten verschiedene Studien, die in den vergangenen Jahren in den USA, in Großbritannien und Australien erschienen. Junge Menschen zwischen 18 und 23 hätten weniger Gelegenheitssex als dieselbe Altersgruppe zehn Jahre vor ihnen, so etwa das Ergebnis einer US-amerikanischen Untersuchung. Die "Puriteens" waren geboren.
Viele junge Frauen würden Sexpositivität für überbewertet halten, titelte indes "Buzzfeed". Sexpositiver Feminismus formierte sich in den 1980er-Jahren, um sich von jenen Aktivistinnen abzugrenzen, die Pornografie und Sexarbeit, aber auch BDSM als frauenunterdrückend ablehnten. Frauen und queere Menschen sollten vielmehr in ihrer Selbstbestimmung gestärkt werden und Zugang zu sexueller Bildung erhalten.
Dieser sexpositive Feminismus sei nun aber aus der Mode gekommen, kommentierte Michelle Goldberg bereits 2021 in der "New York Times". Junge Frauen würden "gegen eine Kultur rebellieren, die erotische Freizügigkeit über Empathie und Verantwortung stellt", so Goldberg.
Sexuelle Bildung für alle
Aber ist das tatsächlich die Botschaft eines sexpositiven Feminismus? "Sexpositivität bedeutet in erster Linie, dass alle Menschen Zugang zu Wissen über Sexualität und Körper haben", sagt Oliwia Hälterlein. Die Kulturwissenschafterin hat ein Buch über den Mythos Jungfernhäutchen publiziert und vermittelt in Workshops sexuelle Bildung. "Es ist so wichtig, das zu betonen, weil Sexpositivität oft gleichgestellt wird mit: Alle sind jetzt polyamourös und kinky. Aber erst einmal geht es um Gleichberechtigung", so Hälterlein.
Wie wichtig es ist, Basiskompetenzen zu vermitteln, weiß auch Manuela Kreimer-Dayé vom Grazer Verein Mafalda. Wie erkenne ich, was mir guttut, und wie kann ich das auch einer anderen Person zeigen? Mit dieser Frage würden viele Mädchen in die sexualpädagogischen Workshops kommen. "Es ist auf jeden Fall wichtig, dass sie einmal hören, dass es okay ist, Nein zu sagen. Und dass man nicht weitermachen muss, nur weil man einmal Ja gesagt hat", sagt Kreimer-Dayé im STANDARD-Gespräch.
Da Jugendliche sehr unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen würden, sei die Arbeit mit Gruppen oft ein Balanceakt. "Da fragen einige, wie sich der erste Kuss anfühlt, und eine andere Teilnehmerin spricht übers Würgen. Das werte ich nicht, aber ich muss auch andere vor Überforderung schützen." Alle Fragen der Jugendlichen würden aufgenommen und akzeptiert – das zeichne die sexpositive Haltung in der Bildungsarbeit aus.
Zervixschleim und namenloses Genital
Als sexpositiv versteht auch Michaela Moosmann vom Bregenzer Verein Amazone ihre Arbeit. Seit über 20 Jahren ist Moosmann als Sexualpädagogin tätig, die Dauerbrennerthemen hätten sich in dieser Zeit kaum verändert: Verhütung, der Körper in der Pubertät, eine Partnerschaft eingehen. "Was ich aber schon wahrnehme, ist ein größerer Druck, sich mit Sexualität auskennen zu müssen", sagt Moosmann im STANDARD-Gespräch.
Sexualität sei heute schließlich viel präsenter, mit wenigen Klicks ist Fachinformation ebenso zugänglich wie kostenlose Pornografie. Vor diesem Hintergrund erscheine es auch paradox, dass Jugendliche nach wie vor sehr wenig Wissen über ihren eigenen Körper mitbringen. "Über Zervixschleim, über nächtliche Samenergüsse oder die Menstruation wissen die meisten sehr wenig", sagt Moosmann.
Hier zeige sich die Hartnäckigkeit patriarchaler Strukturen, ist Oliwia Hälterlein überzeugt. "Ich arbeite mit Menschen über 30, und viele haben sich noch nie ihre Vulva angeschaut oder können das Genital nicht benennen." Wofür die Frauengesundheitsbewegung schon vor Jahrzehnten gekämpft hat, bleibt nach wie vor Utopie: Fundiertes Wissen etwa über die Klitoris als Lustorgan ist in den meisten Schul- und Anatomiebüchern nicht zu finden. "Wir brauchen strukturelle Veränderungen, politische Reformen. Es kann nicht sein, dass Aktivist:innen das mit unbezahlter Bildungsarbeit ausgleichen müssen", sagt Hälterlein.
Skripten im Kopf
Individuelles Erleben sei niemals von gesellschaftlichen Strukturen zu trennen, betont auch Sexualpädagogin Moosmann. "Weibliche Sexualität ist besonders durch Sozialisation zugerichtet", sagt sie. Gerade in ländlichen Gebieten gelte immer noch: Frauen, die sich sexuell ausleben, werden abgewertet, junge Männer hingegen würden sich bloß die Hörner abstoßen. Feministinnen haben dafür den Begriff des „Slutshamings" geprägt.
Sorgen bereitet der Sexualpädagogin besonders das Verhältnis vieler Mädchen und junger Frauen zu ihrem eigenen Genital. „Es gibt Mädchen, die wollen sich keinen Tampon einführen, weil sie es grauslich finden", erzählt Moosmann. "Und wie soll ich Sexualität lustvoll und selbstbestimmt erleben, wenn ich solche Bilder im Kopf habe?"
Von den Bildern im Kopf, die durch Mainstream-Pornografie geprägt waren, erzählte auch Superstar Billie Eilish in einem Interview 2021. Die 21-jährige Sängerin gehört jener Generation an, die mit im Netz frei zugänglicher Pornografie aufgewachsen ist. Schon mit elf habe sie begonnen, Pornos zu schauen, die ihr nicht guttaten – und bereue das jetzt. Erst später habe sie gelernt, dass diese Darstellungen nicht die Realität widerspiegeln.
Pornografie sei ein wichtiges Thema für Mädchen in den sexualpädagogischen Workshops, sagt Manuela Kreimer-Dayé – Medienkompetenz dementsprechend essenziell. Konsumierte Bilder müssten zurechtgerückt und in einen Kontext gesetzt werden. Wichtig sei es dabei, sich selbst als sexuelles Subjekt – und nicht als Objekt – wahrnehmen zu lernen. "Sexpositiv heißt nicht: je mehr, desto besser. Es geht vielmehr um einen selbstbestimmten Zugang." Ein wichtiger Schritt in diese Richtung sei nicht zuletzt kostenlose Verhütung, fordert Kreimer-Dayé. "Viele Mädchen, die zu uns kommen, wünschen sich eine längerfristige Verhütung wie die Spirale. Und es ist fast unmöglich, finanzielle Unterstützung dafür zu bekommen. Das schränkt enorm ein."
Sexuelle Befreiung neu denken
Warum junge Menschen weniger häufig Sex haben, worauf Studien hindeuten, dafür existieren bisher keine gesicherten Erklärungen. Die Generation Z sei eine Generation der Unsicherheit, bringen Kommentator:innen ins Spiel: teure Mieten, die junge Menschen länger bei ihren Eltern wohnen lassen, psychische Belastungen durch die Pandemie, die Sorge wegen des Klimawandels.
Feministinnen verbinden sexuelle Selbstbestimmung immer schon mit ökonomischer Sicherheit und dem Abbau von Diskriminierung – sexnegativ ist das keineswegs.
"Vielleicht ist der Begriff sexpositiv auch irreführend. Vielleicht wird eine neue Generation sich einfach einen neuen Begriff erarbeiten", sagt Oliwia Hälterlein. (Brigitte Theißl, 28.5.2023)