Im Spätsommer 1998 war ich zum ersten Mal in den USA unterwegs, das hatte mit drei Paaren zu tun und kam so. Das erste Paar, das waren mein Sohn und meine Tochter. Der vierzehnjährige Benjamin pflegte damals eine geradezu enzyklopädisch unterfütterte Amerikanophilie, konnte die Namen sämtlicher ermordeter Gangsta-Rapper und Hauptstädte der Bundesstaaten aufsagen und drängte uns, sein Englisch, das bereits besser war als das meine, endlich in den USA erproben zu dürfen. Seine vier Jahre jüngere Schwester, noch nicht den ökologischen Prinzipien verpflichtet, die ihr später wichtig wurden, sehnte sich danach, einmal eine richtig lange Flugreise in einem Großraumflugzeug zu erleben und, Geschöpf des Wassers, das sie war und geblieben ist, endlich in einem richtigen Meer, im Atlantik an der amerikanischen Ostküste, zu schwimmen.

Inge Morath und Arthur Miller vor ihrem Haus in Roxbury, Connecticut.
Kurt Kaindl

Reise durch die Zeiten

Das zweite Paar bildeten Inge Morath und Arthur Miller, die uns eingeladen hatten, sie in Roxbury, einem kleinen Ort rund zwei Autostunden von New York entfernt, zu besuchen. Morath hatte ich ein paar Mal in Salzburg getroffen, wo sie auf ihren Europa-Reisen gerne Halt machte, weil sie, die seit langem in den USA lebte, vom Salzburger Fotohof für Ausstellungen, aber auch für neue Projekte in ihre alte Heimat eingeladen wurde. 1995 war in der Edition Fotohof ihr Buch Donau erschienen, in dem sie Fotografien aus den Jahren von 1958 bis 1994 zu einer einzigen großen Reise entlang des Flusses und durch die Zeiten aneinanderfügte, und für diesen Band hatte ich ein umfangreiches Vorwort verfasst. Inge Morath und Arthur Miller haben viele Länder der Welt gemeinsam bereist, aber nach Österreich hat er sie kaum je begleitet.

Als er es einmal doch tat und beide im Salzburg-Seminar, einer amerikanischen Bildungsinstitution im Schloss Leopoldskron, einige Auftritte hatten, baten wir sie zum Abendessen; Millers Sympathie fiel uns rasch zu, weil Inge Vegetariern war und er in Roxbury meist zu essen bekam, was sie an fleischloser Kost auf den Tisch stellte, sodass er geradezu beglückt schien, mehrere Portionen Wiener Schnitzel verdrücken zu dürfen. Ich glaube, schon an diesem Abend luden sie uns ein, einmal bei ihnen in Connecticut vorbeizuschauen.

Meine Frau und ich hatten vorher tatsächlich nie daran gedacht, in die Staaten zu reisen, begriffen aber, dass es eine so verlockende Konstellation, es doch zu tun, kein zweites Mal geben würde: Kinder, die unbedingt hinwollten, zwei bedeutende Künstler, die wir an dem Ort treffen würden, an dem sie seit Jahrzehnten lebten und arbeiteten. Und dieses dritte Paar, ohne das wir weder Inge Morath kennengelernt noch uns auf eine dreiwöchige Tour durch die Staaten gewagt hätten: Brigitte Blüml und Kurt Kaindl, die Moraths österreichische Projekte betreuten und, beide amerikaerfahren, nach dem Besuch in Roxbury mit uns im Leihwagen Connecticut, Massachusetts, New Hampshire und Maine erkunden wollten.

Kein protziger Eindruck

So flogen wir am 25. August 1998 von Salzburg nach London und von dort nach New York. Als wir, spätabends gelandet, den John F. Kennedy Airport um Mitternacht verließen, stießen wir gegen eine warme weiche Wand. Viele hatten uns gewarnt, vor diesem dramatischen vegetativen Erlebnis, der schwülen Hitze des New Yorker Sommers, die uns, als wir ins Freie traten, selbst zu dieser späten Stunde fast zurückwarf.

Anderntags fuhren wir nach Roxbury hinaus, unterwegs wurde es auf der Landstraße, die an kleinen Ansiedelungen und Dörfern vorbeiführte, angenehm kühler, je weiter New York hinter uns lag. Und dann tauchte es auf, das Anwesen, das Morath und Miller bewohnten, es war ein einfacher Postkasten am Straßenrand, der uns zeigte, dass wir hier auf einen Privatweg abzubiegen hatten. In meiner Erinnerung sahen wir als Erstes einen kleinen, fast kreisrunden Teich, der wie die spirituelle Mitte des Geländes anmutete und von sanft hügeligen Wiesen umgeben war, auf die verstreut vier Gebäude gesetzt waren: ein wohlproportioniertes weißes Holzhaus mit großzügiger Veranda; ein von Gebüsch umwachsenes ebenerdiges Gebäude, das einst, welcher Farmerfamilie auch immer, als Scheune gedient hatte, und daran angebaut ein zweistöckiger, mit hohen schmalen Fenstern ausgestatteter dunkler Rundbau, das ehemalige Futtersilo.

Arthur Millers Schreibtisch.
Kurt Kaindl

Halbverborgen in einem Wäldchen stand ein bescheidenes Haus aus Holz, die Schreibklause von Miller. Alles zusammen machte, wie es da still abseits lag, einen großzügigen, aber keinen protzigen Eindruck, es war weder ein Park, der von landschaftsgärtnerischen Ambitionen zeugte, noch ungestaltete Natur, die sich selbst überlassen worden wäre. Nach einiger Zeit traten die beiden aus dem Wohnhaus auf die Veranda: Miller, groß gewachsen und geradezu hager, der sich mit seinen 82 Jahren sehr gerade hielt und noch in hohem Alter dem attraktiven jungen Mann ähnlichsah, der in den Fünfzigerjahren auf zahllosen Fotos als der damals vielleicht berühmteste Schriftsteller der Welt abgebildet worden war. Morath, die mit ihrem Mann zu uns trat, war ein ordentliches Stück kleiner als dieser und eine geradezu sportliche Erscheinung, die wie immer mit lässiger Alltagseleganz gekleidet war. So traten sie stets auf: er ruhig, sie quirlig, er bedachtsam, sie in Bewegung. Und er, der Autor, ein konzentrierter Zuhörer, sie, die Fotografin, eine naturwüchsige Erzählerin.

Wir hatten unsere Gästezimmer in der alten Scheune zugewiesen bekommen und unsere Koffer noch kaum ausgepackt, da vergatterte Inge uns schon dazu, mit dem Schinackel, das vertäut am Ufer schaukelte, auf den Teich hinauszurudern und mittels Angelnetzen, die an langen Holzstangen angebracht waren, das Laub einzufangen, von dem das Wasser dicht bedeckt war. Inge, Kurt, meine Frau, Tochter und ich wetteiferten, den Teich zu putzen, ein Unterfangen, das keiner Reinigungskraft der Welt gelingen konnte, denn wie von selbst schloss sich die Laubdecke wieder über die eben freigeschaufelten Flächen.

Einmal hob ich den Blick von der mühsamen Arbeit und schaute auf die Hügel ringsum, da sah ich in einer Entfernung von zwei-, dreihundert Metern den alten Schriftsteller gemessenen Schrittes mit dem Burschen aus Europa dahinziehen. Am Abend fragte ich meinen Sohn, worüber um Himmels willen sie sich denn bei dem fast zweistündigen Spaziergang unterhalten hatten, und er antwortete, als wäre es das Selbstverständliche: "Der hat mich dauernd was gefragt!" Was? "Ob es in Österreich die Todesstrafe gibt, und was wir in der Schule in Geschichte lernen. Wie unser Präsident heißt und was ich von ihm halte. Wie viel Taschengeld man in Österreich braucht, um auszukommen, und was mein Lieblingsfilm ist. Und solche Sachen."

Inge Moraths Arbeitszimmer mit ausgelegten Arbeiten für ein Fotobuch.
Kurt Kaindl

Wie er sich mit dem Jugendlichen unterhielt, gerade so hat es Miller mit allen gehalten. Er war neugierig und fragte die Leute aus, bis er fand, dass sie ihm genug erzählt hatten. Für Smalltalk war ihm die Zeit zu schade, aber solange er mit jemandem sprach, spürte man, dass er es nicht aus Höflichkeit tat, sondern weil er an dem Menschen, an den er sich wandte, und an den Dingen, nach denen er fragte, tatsächlich interessiert war.

Keine Zeit für Smalltalk

Ich konnte in Roxbury studieren, auf welche Weise dieser Schriftsteller sein Wissen um die Welt beständig erweiterte. Lieber als dass er selber erzählte, brachte er andere zum Erzählen, und ihnen hörte er aufmerksam zu, bis er, nicht unfreundlich, aber unvermittelt, die Unterhaltung abbrach und sich ins Schweigen zurückzog oder sich kommentar- und grußlos in ein anderes Zimmer verfügte.

Ich weiß nicht, ob es seit je seinem Charakter entsprach oder er erst im Alter so wurde, jedenfalls mochte er keine Plaudereien, nicht einmal geistreiche, sondern bevorzugte stattdessen das Gespräch, und zwar nur solange es nicht in Gefahr stand, zur Plauderei zu werden. Inge war da ganz anders, auch sie war zwar außerordentlich weltneugierig und mochte, nachfragend und ermunternd, immer etwas Neues herausbekommen.

Aber von ihnen beiden war sie die Redsame, die von ihrem Leben und ihren Reisen berichtete, spannende Geschichten mit traurigen oder glücklichen Wendungen erzählte; und sie lachte gerne auch über unbedeutende Scherze und hatte ihre Freude an kleinen Causerien, vielleicht war die Begabung zur leichthin geführten Unterhaltung ihr österreichisches Erbe.

Als wir die vier Gebäude und das Anwesen inspiziert hatten, dachte ich mir, dass sich die beiden zwar verschiedene Räumlichkeiten für verschiedene Tätigkeiten geschaffen hatten, die Trennung von Wohnen, Leben, Arbeiten von ihnen aber keineswegs starr eingehalten wurde. Die Arbeitsräume in der alten Scheune, dem einstigen Silo und der Schreibklause schauten nicht viel anders aus als die Zimmer im geräumigen Wohnhaus.

Fensterbrett in einem weiteren Arbeitszimmer.
Kurt Kaindl

Da wie dort herrschte eine Art von wohlgeordnetem Durcheinander. Überall lagen Zeitungen, Kataloge, Bücher herum, stapelten sich Bilder, Abzüge, Probedrucke, Entwürfe für Buchumschläge und vielerlei Zeug, und auf den Tischen, den Regalen waren kleine Dinge, Geschenke, Erinnerungsstücke, Kunstwerke und Krimskrams abgelegt. Was auf den ersten Blick unübersichtlich erschien, hatte seine geheime Ordnung, und je genauer ich mir die Sache anschaute, umso deutlicher stand mir vor Augen: In diesen Räumen versuchen zwei Menschen, die Dinge ihres Lebens so zu ordnen, dass sie jederzeit finden, wonach sie suchen, und ihnen stets präsent ist, was sie nicht vergessen wollen.

Die Dinge des Lebens, dazu gehören bei zwei Künstlern natürlich all die Materialien, Notizen, Pläne, die sie zu ihrer Arbeit benötigen, zu der von heute und der von morgen, für die sie oft auch die von gestern und vorgestern zurate ziehen. Inge Morath und Arthur Miller haben ihr Anwesen methodisch so gestaltet, dass sie immerzu von den Ergebnissen ihrer Arbeit umgeben waren, und dies zum Zwecke, die Arbeit jederzeit wieder aufnehmen zu können, nein, sie in Wahrheit niemals abzubrechen und ruhen zu lassen.

Nicht dass sie unentwegt tätig gewesen wären, getrieben von immer neuen Projekten, aber alles lag bereit, um ohne Umstände unverzüglich begonnen oder wieder aufgegriffen werden zu können. Das Leben dieser beiden Menschen, die so gar nichts Rast- und Ruheloses hatten, war von der schöpferischen Arbeit bestimmt und erfüllt, und ihr Haus, ihre Räumlichkeiten zum Arbeiten und Archivieren, haben sie rigoros gemäß diesem Wunsch ausgestattet. Zur Arbeit und dieser Art zu leben gehörte auch die Ruhe. Roxbury war ein ruhiger Ort, und ihr Anwesen lag von ihm noch einmal ein paar Kilometer weit in der ruhigeren Ruhe entfernt. Die beiden besaßen auch ein Appartement in New York, wo sie mit zahllosen Menschen mehr oder weniger gut befreundet, vertraut, bekannt waren. Die Ruhe von Roxbury wurde dadurch gewahrt, dass sich hier nicht die New Yorker Kunstgesellschaft tummelte, sondern Besuch nur selten empfangen wurde.

Einmal fuhren wir abends eine halbe Stunde mit dem Auto, um in einem Restaurant zu Abend zu essen. Wir waren auf das Lokal gespannt, das Arthur Miller das liebste weitum war, und landeten schließlich in einem Haus an der Straße, das im vorderen Teil einen Laden beherbergte, in dem Lebensmittel, Zeitungen und dergleichen verkauft wurden, während im hinteren Raum vier, fünf Tische standen, an denen Speisen und Getränke serviert wurden, vornehmlich Pizza und Pasta, Cola und Bier.

Karl-Markus Gauß, geboren 1954, lebt als Schriftsteller in Salzburg. Zuletzt erschien von ihm "Die Jahreszeiten der Ewigkeit. Journal" (Zsolnay, 2022).
Karl Schöndorfer/Toppress

Außer uns hatten hier die zwei Lastkraftwagenfahrer Platz genommen, deren Trucks an der Straße geparkt waren, und eine freundliche Familie mit drei Kindern. Die Pizzen waren riesig und schmeckten vorzüglich, und Arthur Miller befragte mich während des Essens zu einem Thema, das ihn aus familiengeschichtlichen Gründen interessierte, zur historischen Region Galizien und wie es um ihre staatsrechtliche Stellung in der habsburgischen Monarchie bestellt war.

In gewissem Sinne, sagte er, bin ich ein halber Österreicher, denn meine beiden Großväter stammten aus Galizien, und mein Vater wurde in der ungarischen Reichshälfte der Monarchie geboren. Inge Morath schien an diesem Abend nicht ganz glücklich zu sein, als würde sie das Lokal für Besucher aus Europa, wo die alltäglichen Genüsse wie das Essen, Trinken, die Muße kulturell geradezu nobilitiert sind, für allzu bescheiden halten. Sie selbst kochte gern, zeigte aber keinerlei Ehrgeiz, mit Kochkünsten zu brillieren.

Unsentimentaler Abschied

Jeder einzelne Raum in den vier Gebäuden zeugte von der künstlerischen Arbeit der beiden. Es lag vermutlich nicht an ihren unterschiedlichen Charakteren, sondern an den verschiedenen Metiers, dass die Fotografin dabei viel mehr Raum beanspruchte als der Schriftsteller. Hunderte Fotografien waren in etlichen Zimmern auf dem Boden ausgebreitet, gerade so, als würde Inge im nächsten Augenblick hereinkommen und die Fotos für ein Buch, eine Präsentation probeweise in eine neue Anordnung bringen.

Schriftsteller breiten die Seiten, die sie geschrieben haben, nicht vor sich aus, um auszuprobieren, in welcher Reihenfolge sie dereinst in einem Buch am besten wirken werden. Ich hatte den unbestimmten Eindruck, dass ihr gemeinsame Anwesen mehr von Inge geprägt wurde als von Arthur, in den Dingen und Räumen und der umgebenden Landschaft schien sie mir ein wenig stärker präsent zu sein als er. (...) Der Abschied war unsentimental, wir wussten nicht, dass wir Miller nie mehr und Morath nur mehr ein einziges Mal in Salzburg treffen würden. Sie starb 2002, er, der Ältere, drei Jahre später. Nach ihrem Tod erschienen zwei von Kurt Kaindl und Brigitte Blüml edierte Fotobände von ihr, 2003 Venezia und 2005 Durch Österreich, zu denen ich Texte beisteuern durfte.

In beiden Bänden erweist sich Morath als Meisterin in der Kunst der dokumentarischen Reisefotografie, und nach ihrer Art hat sie auch Venedig, Wien und die österreichische Provinz nicht nur einmal aufgesucht und dann als Fotografin mit ihnen abgeschlossen, sondern immer wieder Nachschau gehalten, mitunter dieselben Schauplätze nach Jahren noch einmal aufgesucht und fotografisch erkundet. Wir selbst brachen von Roxbury durch den aufglühenden Indian Summer zu einer Reise auf, die es in sich hatte, doch das ist eine andere Geschichte, die zu erzählen hier nicht der richtige Ort ist. (Karl-Markus Gauß, 27.5.2023)