Der Edeka-Markt in Konstanz während der "stillen Stunde".
Ines Janas

Text: Anna Dreussi

Heute wird das Licht schon um 14.55 Uhr gedimmt im E-Center in Konstanz am deutschen Bodenseeufer. Die Musik geht aus, das Piepsen der Kassen wird leiser. Die Einkaufenden sehen fast ein bisschen andächtig aus, während sie ihre Einkaufswagen durch die Gänge schieben. Wo sonst grelles Licht auf der Schale von Früchten und Gemüse glänzt, ist es heute alles sanfter. Irgendwo knistert die Lüftung, und woanders surren die Kühlschränke. Die Verpackungen der Fertigpizzen, das Design der Eiskaffees, das Wochenangebot hinter der Käsetheke schreit niemanden an. Allgäuer Bergkäse, Appenzeller mild, Grünländer, Gouda mittelalt. Alles scheint wie ein Flüstern. Ein Mann leuchtet mit seiner Handytaschenlampe auf die Wein-Etiketten.

Obwohl in Supermärkten die Atmosphäre normalerweise eine andere ist, ist das alles nichts Neues. In den letzten Jahren haben auf der ganzen Welt Supermärkte eine "stille Stunde" eingeführt. In Neuseeland wird schon seit 2019 in einer der größten Supermarktketten während einer Stunde pro Woche das Licht gedimmt und die Musik ausgeschaltet. Und in der Schweiz, in Deutschland und seit letzter Woche auch in Linz verzichten Supermärkte auf grelle Lampen und Durchsagen, um Autisten und hochsensiblen Menschen, die licht- und geräuschempfindlich sind, einmal die Woche die Möglichkeit zu geben, ohne Reizüberflutung einkaufen zu gehen.

In Konstanz ist die "stille Stunde" schon seit März Teil der normalen Geschäftsöffnungszeiten. Am Dienstagnachmittag kommt ein paar Mal die Durchsage: "Wir möchten Sie darauf hinweisen, dass um 15 Uhr unsere 'stille Stunde' beginnt." Die Stimme, die aus den Lautsprechern kommt, erklärt den Hintergrund und fordert Einkaufende dazu auf, ihre Handys auf lautlos zu stellen.

Reizüberflutung

Als Katrin Zorns Kinder die Diagnose erhielten, dass sie im Autismusspektrum sind, fanden sie und ihr Mann in ihrem Landkreis keine Anlaufstelle. Sie wollten sich mit anderen Familien austauschen. Erst gründeten sie und ihr Mann eine Selbsthilfegruppe. Um von der Politik ernst genommen zu werden, folgte dann der Aufbau eines Vereins. Katrin Zorn hört in ihrem Verein Spektralkräfte – Netzwerk Autismus e. V. immer wieder von Familien und Kindern, für die Einkaufen ein schwieriges Unterfangen ist. Sie erzählen, dass sie nicht einkaufen gehen, weil sie es nicht schaffen, die Reize im Supermarkt auszuhalten. Katrin kennt dieses Problem aus dem eigenen Alltag. Ihre Tochter und ihr Sohn sind auch immer darauf angewiesen, dass sie als Mutter für sie einkauft. "Sie bekommen dann natürlich nur zu sehen, was ich nach Hause bringe." Sie wünsche sich, dass ihre Kinder im Supermarkt selbst aussuchen können. "Es ist wichtig für ein selbstständiges Leben, Lebensmittel auszusuchen und einzukaufen." Als sie den Supermarkt, in dem sie immer einkauft, per Mail mit ihrem Anliegen kontaktierte, habe sie nicht damit gerechnet, dass die Geschäftsleitung persönlich anruft.

Als Katrin Zorns Kinder die Diagnose erhielten, dass sie im Autismusspektrum sind, fanden sie und ihr Mann in ihrem Landkreis keine Anlaufstelle.
Ines Janas

"Haben Sie schon mal über die 'stille Stunde' nachgedacht?", steht in der Mail, die Sabine Seibl, Geschäftsführerin von Edeka Baur, kurz vor Weihnachten erreicht. Sabine Seibl googelt. Dass es Menschen gibt, die nicht einkaufen gehen können, habe sie berührt, erzählt sie. Sie ruft Frau Zorn an, um mehr darüber zu erfahren. Lange überlegen musste sie nicht. Sie wollte es versuchen. Nach einigen Tests mit den Lampen wurde die "stille Stunde" im März eingeführt.

Auf das erste Mal Einkaufengehen reagierten Katrin Zorns Kinder mit großen Augen. "Sie merkten: Ich kann das ja. Und schau mal, was es alles gibt." Katrin Zorns Stimme klingt aufgeregt, ihr Stolz ist auch über die Telefonverbindung zu hören. Im Verein erhält Katrin Zorn viele Rückmeldungen. "Manche müssen sich nach einem Einkauf jetzt nicht mehr zwei Stunden von der Anstrengung erholen. Andere erzählen, dass ihre Kinder jetzt gerne mitkommen." Die "stille Stunde" zieht weite Kreise. Manche kommen von weit weg, um in Konstanz einzukaufen.

Entspannteres Arbeiten

Eine Frau lächelt. Ihre Stimme passt zwischen das leise Surren der Kühlschränke und das entfernte Piepsen der Kassenscanner: "Ich genieße es." Sabine, 59, ist speziell für die "stille Stunde" in den Supermarkt gekommen. Nach einem Arbeitstag mit Kindern war der Gang in den Supermarkt anstrengend. "Ich bin geräusch- und lichtempfindlich und gehe jetzt immer dienstags einkaufen."

Stille Stunde, Supermarkt
Die "stille Stunde" zieht weite Kreise: Manche kommen von weither, um in Konstanz einzukaufen.
Ines Janas

Die Menschen sprechen leiser hinter ihren Einkaufswagen. Ein Tempel des Konsums war einem echten Gotteshaus wohl noch nie ähnlicher. Mitarbeiterin Katharina räumt Pizzateige in ein Kühlfach. "Für mich passt es." Sie arbeitet gerne in dieser Ruhe.

Sie ist nicht die Einzige. Auch andere Mitarbeitende reagierten positiv auf die Umstellung. "Ein Großteil hat gesagt, dass wir das eigentlich auch öfter machen könnten, weil es für die Mitarbeitenden in einer ruhigen Geräuschkulisse ein entspannteres Arbeiten ist."

Ein Mann schiebt seinen Wagen durch den Eingang des Markts. Andreas (45) wusste nichts von der "stillen Stunde". Er ist skeptisch. "Ich wollte eigentlich schon umdrehen, als ich es gesehen habe", sagt er. "Ich dachte, dass sie jetzt auch hier Energie sparen wollen."

Konstanz stille Stunde supermarkt
Die meisten Rückmeldungen zur "stillen Stunde" im Supermarkt in Konstanz sind positiv.
Ines Janas

Michael Schweigert, Mitarbeiter im E-Center, hört in seinem Arbeitsalltag immer wieder Feedback der Kundinnen. Auch heute in der Gemüseabteilung. Der 22-Jährige selbst findet es eine "gute Sache". Manche sagen ihm, dass die Pieptöne immer leise eingestellt sein sollen. Andere, vor allem ältere Menschen sagen, dass sie im gedimmten Licht die Etiketten nicht mehr lesen können. Die meisten Rückmeldungen, die er bekommt, seien jedoch positiv.

Die Geschäftsführerin Sabine Seibl ist zufrieden mit dem Feedback. Denn auch sie bekommt fast ausschließlich positive Reaktionen mit. Aber einige kritischen Stimmen gibt es. Wie sie darauf reagiert? "Wir haben über 90 Stunden Öffnungszeit in der Woche. Wenn sich jemand in diesen zwei Stunden nicht wohlfühlt, gibt es immer noch 88 weitere Stunden, in denen die übliche Atmosphäre gewährleistet ist." Von manchen sei sie gefragt worden, wie sich die "stille Stunde" in den Zahlen niederschlägt. Sie habe das nicht überprüft. "Das war keine kaufmännische Entscheidung. Wir wollten unserer sozialen Verantwortung als Betrieb nachkommen."

stille Stunde Autismus Supermarkt
Für Menschen im Autismusspektrum ist die "stille Stunde" nur ein Schritt auf dem Weg für mehr Teilhabe.
Ines Janas

Christina (43) lädt sich eine Schale Erdbeeren in den Einkaufswagen. Sie ist heute mit ihrem Sohn im Laden. Absichtlich wegen der "stillen Stunde" ist sie jedoch nicht hier. Toll findet sie die Aktion trotzdem. "Als wir reingekommen sind, habe ich gedacht: Super, dass wir es erwischt haben." Sie mag die Ruhe.

Katrin Zorn hat mit der "stillen Stunde" ein Ziel erreicht. Aufhören möchte sie aber noch nicht. Die "stille Stunde" im E-Center ist nur ein Schritt auf dem Weg für mehr Teilhabe für Menschen im Autismusspektrum. Eine "stille Stunde" in Drogerien oder Kleidungsgeschäften, mehr Unterstützung im Berufsleben, Teilhabe am kulturellen Leben.

"Für uns ist noch jede Menge zu tun."

In einer Stunde kommt das Licht zurück und die grellen Farben und das laute Leben. Aber gerade jetzt ist hier noch alles ruhig. Hier passiert viel. Vielleicht mehr als sonst. Hier passiert Teilhabe. (Anna Dreussi, 26.5.2023)