Jessamyn Stanley Yoga Dick Schwarz Frau Diversität Vielfalt
Jessamyn Stanley kämpft für mehr Sichtbarkeit diverser Körperformen in der Yogabranche.
Löwenzahn-Verlag / Christine Hewitt

Jessamyn Stanley ist dick, schwarz und queer. Mit der gefilterten Yogawelt voller dünner, weißer Athletinnen, die perfekte Handstände vor einer beeindruckenden Strandkulisse turnen, kann sie wenig anfangen. Und sie gibt Kurse für alle, denen es genauso geht. Das sind viele: 2014 hatte Stanley damit begonnen, Yogavideos auf Youtube zu veröffentlichen, mittlerweile hat sie eine eigene App. "The Underbelly" – benannt nach dem unteren Bauch, den viele oft verstecken möchten und den Jessamyn in ihren Videos bewusst zelebriert. Während der Pandemie wuchs die Zahl der Nutzer und Nutzerinnen ihrer Yoga-App um das Fünffache, auf Instagram folgen ihr heute weit mehr als eine halbe Million Menschen. Mit ihnen teilt sie täglich die Kernbotschaft aus ihrem ersten Buch "Every Body Yoga", das nun auch auf Deutsch erschienen ist: Yoga ist für alle – bzw. sollte es wieder werden. Denn heutzutage sei die Praxis zu stark in der weißen Oberschicht verankert, findet Stanley und fordert mehr Vielfalt auf der Matte.

STANDARD: Sie schreiben, die Yogabranche schließe manche aus. Aber jede Person, die möchte, kann doch Yoga machen, oder?

Stanley: Eigentlich ja, aber alle, die nicht dünn, weiß und reich sind, sind in der Community kaum sichtbar, das meine ich damit. Vor allem dicke, schwarze oder queere Menschen haben dadurch das Gefühl, nicht gut genug zu sein, und trauen sich womöglich nicht zu Gruppeneinheiten in Yogastudios. Und gleichzeitig glaube ich ironischerweise, dass es gar nicht so viel mit dem Aussehen zu tun hat. Ich bin davon überzeugt, dass auch viele dünne, weiße, normschöne Frauen mit dem Gefühl, nicht gut genug zu sein, zum Yogakurs gehen.

STANDARD: Steht Yoga im Kern nicht für das genaue Gegenteil, nämlich die Akzeptanz und den Einklang von Körper und Geist?

Stanley: Ich glaube, es ist nicht möglich, den eigenen Körper neutral zu betrachten. Unsere Körper sind politisch, revolutionär und radikal. Wenn wir dem eigenen Körper gegenüber neutral sind, leugnen wir die Macht unserer Existenz. Wir müssen deshalb als Gesellschaft an den Punkt kommen, an dem wir unsere Körper so akzeptieren können, wie sie sind. Ohne Körperakzeptanz können wir systemischen Rassismus oder patriarchale Ideologien nicht bekämpfen.

Jessamyn Stanley Yoga Handstand Dick Schwarz Frau Diversität Vielfalt
"Welche Leggings man beim Yoga trägt, scheint heute wichtiger als das Gefühl, das man dabei hat", kritisiert Jessamyn Stanley.
Löwenzahn-Verlag / Christine Hewitt

STANDARD: Und was hat das mit Yoga zu tun?

Stanley: Die weiße Vorherrschaft ist in das Fundament unserer Welt einzementiert, sie ist die Grundlage unserer globalen Gesellschaft und damit auch des Yogas. Ganz besonders in Europa und den USA spielen traditionelle, weiße Schönheitsnormen eine große Rolle, auch im Marketing. Das verzerrt aber die öffentliche Repräsentation und führt zu einer falschen Herangehensweise an Yoga. Ich spreche hier auch von kultureller Aneignung. Anstatt etwas zu schätzen und etwas über die Kultur zu lernen, aus der Yoga kommt, geht die weiße Mehrheitsgesellschaft hin und sagt: "Ich nehme mir das, es gehört jetzt mir." Das ist Diebstahl. Aber über dieses Thema sprechen viele Menschen lieber gar nicht, aus Angst, etwas Falsches zu sagen. Das führt aber dazu, dass Yoga immer oberflächlicher wird und sich alles nur noch um die Ästhetik dreht. Viele nutzen Yoga eher für ein schweißtreibendes Workout, statt wirklich Innenschau zu halten. Oder für ein gutes Foto für Instagram. Dabei ist das Wichtigste beim Yoga, dass es völlig egal ist, wie man dabei aussieht. Es scheint aber heute wichtiger, in welchen Leggings du zur Einheit kommst, als das Gefühl, das du dabei hast. Und ich glaube, die weiße Vorherrschaft ist der Grund dafür.

STANDARD: Dabei schreibt sich gerade die Yogabranche einen achtsamen Umgang mit sich selbst und anderen auf die Fahnen. Zu Unrecht?

Stanley: Ja, die Yogabranche ist völlig verlogen. Wenn es um Inklusion und Vielfalt geht, wird immer ein kleines Pflaster auf eine riesige Wunde geklebt. Das ist in vielen Branchen so, nicht nur im Yoga. Aber wir müssen die Wunde im Kern heilen und das Problem an der Wurzel packen. Natürlich kann man die Zeit nicht zurückdrehen, sollte man auch nicht. Das hat ja auch viel dazu beigetragen, dass Yoga überhaupt in den Westen gekommen ist. Aber es ist höchste Zeit, dass wir uns mit der westlichen Aneignung auseinandersetzen. Das bedeutet, Bücher zu lesen, Geschichte zu lernen, die Kultur zu schätzen, anstatt sie einfach zu vereinnahmen, mehr zuzuhören, als zu sprechen, und sich nicht davor zu scheuen, sich auch einmal einzugestehen: "Ich habe mich geirrt, es tut mir leid."

Buchcover Every Body Yoga Jessamyn Stanley Yoga für alle
In "Every Body Yoga" gibt sie einfache Anleitungen und ungewöhnliche Tipps für alle, die sich in Gruppeneinheiten überfordert oder unwohl fühlen. Löwenzahn-Verlag, 216 Seiten, 30,50 Euro.
Löwenzahn-Verlag

STANDARD: Wie kann das gelingen?

Stanley: Wenn man wirklich Yoga praktiziert und ehrlich in sich geht, dann wird man sich ohnehin nichts aneignen. Wir müssen also alle zuerst auf persönlicher Ebene nach innen blicken, erst dann können wir für systemischen Wandel kämpfen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Als ich begonnen habe, Bücher zu schreiben, dachte ich zuerst: Jetzt kann ich endlich über die weißen Leute lästern, die mir in all den Yogakursen über die Jahre auf die Nerven gegangen sind. Im Schreibprozess habe ich aber gelernt, dass es doch gar nicht um mich geht. Es gibt so viele Menschen, die Dinge getan haben, die ich nicht cool finde. Aber alles, was ich zu diesen Menschen sagen will, musste ich zuerst zu mir selbst sagen. Ich musste mich zuerst mit meinem eigenen internalisierten Rassismus befassen und damit, wie ich mich und meinen Körper lange selbst beschämt habe. Das hat mir ein tieferes Verständnis für mich selbst ermöglicht und war die erfüllendste Arbeit, die ich je gemacht habe. Aber nervt es mich trotzdem, dass ich oft die Quotenschwarze war? Natürlich. (Magdalena Pötsch, 29.5.2023)