Antigone/Festwochen
Auf der Bühne des Burgtheaters wird das Massaker von 1996 nachgestellt.
Kurt Van Der Elst

Das Theater ist bei dieser Inszenierung nur einer von mehreren Schauplätzen und beileibe nicht der wichtigste. Das Zentrum von Milo Raus Antigone im Amazonas liegt tausende Kilometer entfernt auf einer brasilianischen Bundesstraße, die mitten durch den Amazonas führt. Links und rechts grasen die Kühe, während auf der unbefestigten Straße Schwertransporter Soja oder Tropenholz an die Küste transportieren. Am 17. April 1996 wurden hier 19 Aktivisten anlässlich eines "Marsches für die Landreform" von der Militärpolizei erschossen.

Bis heute kämpfen die Überlebenden um Gerechtigkeit – und darum, auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen: eine radikale Landreform und eine ökologische Agrarwirtschaft. Mit Milo Rau hat die Landlosenbewegung MST einen prominenten Mitstreiter gefunden. Der Schweizer Regisseur leitet das Stadttheater in Gent und wird im kommenden Jahr die Direktion der Wiener Festwochen übernehmen. Zusammen mit einigen Theatergenossen fuhr er 2019 in das Amazonasgebiet, um sich an die Seite des MST zu stellen – und gemeinsam eine Neufassung von Sophokles Antigone zu proben: ein Stück über Auflehnung und Widerstand und über das Gleichgewicht von Mensch und Natur.

Antigone Festwochen
Der Boden im Burgtheater ist mit roter Erde ausgelegt: Frederico Araujo sticht als Antigone auf ihn ein.
Kurt Van Der Elst

Vier Jahre und eine Covid-Pandemie später wehen im Wiener Burgtheater feuerrote Fahnen, dazu stimmt Pablo Casella auf seiner Gitarre melancholische Akkorde an. Der Schauspieler ist einer von nur vier Protagonisten, die es auf die beinahe leere Burg-Bühne geschafft haben. "Ungeheuer ist viel, aber nichts ungeheurer als der Mensch", sagt er, und nimmt damit schon einmal den bekanntesten Satz aus der Antigone vorweg.

Aber Vorwegnehmen gehört bei Milo Raus Projekt ein bisschen zum Prinzip. Bereits 2020 hatte eine der Schauspielerinnen und Aktivistinnen, die Indigena Kay Sara, in der Eröffnungsrede der Festwochen über die Ausbeutung von Ressourcen und die Zerstörung von Lebensräumen geklagt, vor einem guten Monat, zum Jahrestag des Massakers, stellte man auf der brasilianischen Bundesstraße vor laufenden Kameras das Massaker nach, am Morgen der Festwochen-Premiere präsentierte Rau schließlich eine von vielen Prominenten unterschriebene Erklärung gegen die "nachhaltige" Zerstörung des Regenwalds.

Schaltung in den Regenwald

Jetzt aber genug mit all den Reden und Zeitungsartikeln, Filmdrehs und Erklärungen, jetzt ist das Theater am Wort. Doch da wird auf der Bühne erst einmal ausführlich die Problemstellung und das Setting erklärt, bevor drei Leinwände aus dem Bühnenboden fahren und die eigentlichen Protagonisten zugeschaltet werden. Kay Sara, die die Antigone hätte spielen sollen, ist in Brasilien geblieben, sie hat beim Kampf um die Rechte ihres Volkes keine Zeit zu verlieren. Frederico Araujo aus Rio de Janeiro sprang ein. Kreon wird dagegen von der Belgierin Sara De Bosschere gegeben, ihr Landsmann Arne De Tremerie ist Antigones Verlobter, Prinz Haimon. Sie alle wechseln in den kommenden 100 Minuten aber immer wieder die Rollen, Antigone ist nur die Folie, vor der viel mehr verhandelt wird: das Massaker, die Ausbeutung, die Menschenrechte, die Politik, die Erderwärmung.

Festwochen/Antigone
Idylle bei Indigenas.
Kurt Van Der Elst

Es ist einiges, was da bei Milo Rau zusammenkommt, und nicht immer ist es ganz einfach, den Anliegen (und den Übertiteln) zu folgen. Die Überlebenden des Massakers geben auf der brasilianischen Landstraße den Chor, ausgewählte Antigone-Szenen werden vor Ort gespielt und auf der Bühne verdoppelt, man besucht den indigenen Philosophen Ailton Krenak (er gibt den Seher Teiresias) und Kay Saras Stamm an der Grenze zu Guyana.

Politik und Kitsch, Theater und Aktivismus gehen dabei interessante Verbindungen ein, die Agitprop wird durch die poetische Vielschichtigkeit der Antigone angereichert und gebrochen, dem Betroffenheitstheater die Reflexion des eigenen Tuns gegenübergestellt. Raus Methoden werfen viele Fragen auf, nicht zuletzt jene nach dem eigenen kolonialistischen Blick und Zugriff. Sie zu diskutieren gehört zu den anregendsten Aspekten heutigen politischen Theaters. Standing Ovations. (Stephan Hilpold, 26.5.2023)