Schon Charly Chaplin wünschte sich im Film "Moderne Zeiten" eine kürzere Arbeitswoche - wird das bald zur Realität werden?
imago/United Archives

Schlanke sieben Seiten ist der Aufsatz lang, den der britische Wirtschaftswissenschafter John Maynard Keynes im Jahr 1930 verfasste und der zu einem der einflussreichsten Texte der Ökonomie werden sollte. In "Economic Possibilities for Our Grandchildren" prognostizierte Keynes, dass wir in ungefähr hundert Jahren dank der wirtschaftlichen Weiterentwicklung und des Fortschritts kaum noch werden arbeiten müssen. Konkret drei Stunden pro Tag oder 15 Stunden pro Woche würden reichen, schrieb Keynes. Im Jahr 2030 werde die hauptsächliche Sorge der Menschen sein, "die Freizeit auszufüllen".

Inzwischen ist das Jahrhundert beinahe abgelaufen. Keynes, so scheint es, lag radikal daneben. Zumindest herrscht weit und breit keine Spur von einer 15-Stunden-Woche.

Die gesunde Vollzeit

Dennoch feiert das Thema Arbeitszeitverkürzung in Österreich derzeit eine Renaissance. Die Idee ist auf der politischen Agenda nach oben gerutscht, unter anderem seit SPÖ-Vorsitzkandidat Andreas Babler eine 32-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich ins Gespräch gebracht hat. Auch in Salzburg warb die KPÖ vor der vergangenen Landtagswahl im April mit einer Arbeitszeitverkürzung – und fuhr einen historischen Erfolg ein. 

Die Arbeiterkammer (AK) plädiert schon länger für eine "neue, gesunde Vollzeit", wie es heißt, und verweist auf eine Umfrage, wonach sich 82 Prozent der Bevölkerung weniger Stunden pro Woche wünschen. Auch wenn Teile der Arbeitgeberschaft hart dagegenhalten – die Industriellenvereinigung (IV) etwa warnt vor "geradezu absurden" Vorstößen angesichts eines "massiven Arbeits- und Fachkräftemangels" –, das Thema liegt auf dem Tisch.

Grund genug zu fragen: Was wurde aus Keynes’ Prophezeiung von 1930? Die Welt, so scheint es, hat sich gar nicht so entwickelt, wie er gedacht hat. Warum nicht? Anfänglich wirkte es so, als würden die Dinge genau in die Richtung gehen, die Keynes vorgeschwebt war. In Österreich ebenso wie in anderen westlichen Staaten wurden die Arbeitszeiten sukzessive kürzer. Hierzulande etwa sank die gesetzliche Wochenarbeitszeit im Jahr 1959 von 48 auf 45 Stunden; im Jahr 1970 von 45 auf 43 Stunden; im Jahr 1975 von 43 auf 40 Stunden. Damit war aber Schluss, im Großen und Ganzen. Später ging es zwar in vielen Kollektivverträgen noch ein Stück weit hinab, auf 38,5 Wochenstunden. Aber die Tendenz zu gesetzlich breitflächig kürzeren Arbeitszeiten war gebrochen. Und das seit mittlerweile fast fünf Jahrzehnten.

Trend gebrochen

Was also ist geschehen? Wo ist die Volkswirtschaft vom Pfad abgebogen, den der Ökonom Keynes vorausgesehen hatte?

Wer es verstehen will, muss sich durch das Zahlenwerk der Statistik Austria wühlen. Sie erhebt das sogenannte Arbeitsvolumen: die Gesamtzahl aller Arbeitsstunden, die in Österreich pro Jahr geleistet werden. Es handelte sich im Jahr 2022 um rund 7,2 Milliarden Stunden.

Das Verblüffende an dieser Zahl: Sie hat sich in den vergangenen Jahrzehnten kaum verändert. Vor fünf Jahren lag sie ungefähr gleich hoch wie heute; nochmals fünf Jahre zurück lag sie leicht darunter, bei knapp sieben Milliarden Stunden. Würde man im Jahr des österreichischen EU-Beitritts 1995 das Arbeitsvolumen mit dem Wert 100 ansetzen, stünden wir heute bei gerade einmal 114 (siehe Grafik). Wir arbeiten also in Summe kaum mehr als vor Jahrzehnten.

Arbeitszeitverkürzung als Realität

Diesem stagnierenden Arbeitsvolumen stehen allerdings andere Entwicklungen gegenüber, bei denen mehr Dynamik auszumachen ist. Da wäre zunächst die Gesamtzahl aller Arbeitsverhältnisse im Land, also grob gesagt der Arbeitskräfte. Deren Zahl hat sich radikal erhöht. Allein im vergangenen Jahrzehnt wuchs sie um rund eine halbe Million auf derzeit knapp fünf Millionen. Die Gründe: Frauen sind auf den Arbeitsmarkt gekommen, und ausländische Arbeitskräfte drängen nach Österreich. Hätte es 1995 hundert Arbeitnehmer in Österreich gegeben, würde ihre Zahl mittlerweile 134 betragen.

Und da wäre da noch die Produktivität, also wie viel an Gütern und Dienstleistungen Österreichs Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in ihrer Arbeitszeit hervorbringen. Obwohl sie heute stundenmäßig nicht mehr arbeiten als vor Jahrzehnten, erwirtschaften sie in diesem selben Zeitraum viel mehr. Hätten die Arbeitnehmer im Jahr 1995 in ihrer gesamten Arbeitszeit Produkte im Wert von hundert Euro erwirtschaftet, wären es heute 140 Euro.

Was bedeuten all diese Zahlen? Die gleiche Stundenzahl wie einst verteilt sich heute auf viel mehr Köpfe. Und noch dazu erwirtschaften sie in dieser Zeit viel mehr. Das heißt, bei der Arbeitszeitverkürzung, wie sie Babler und andere Befürworter beschwören, handelt es sich eigentlich um keine Utopie – sie hat vielmehr längst stattgefunden.

Illusion Vollzeit

Dividiert man die Gesamtzahl der Stunden durch jene der Arbeitskräfte, dann erhält man für das Jahr 2022 27,9 Stunden – das ist, wenn man so will, die reale Wochenarbeitszeit des durchschnittlichen Beschäftigten im Land. Dieser Wert zeigt, dass die 40-Stunden-Woche als angebliche Norm längst Illusion ist. Teilzeit hingegen in all ihren Spielarten ist viel mehr die Regel, als man meinen möchte.

Die reale Arbeitszeitverkürzung findet aber nicht geplanterweise statt, etwa infolge einer Gesetzesänderung. Stattdessen ergibt sie sich gewissermaßen von selbst – ungeregelt und ungleich verteilt. Österreichs Vollzeitbeschäftigte beispielsweise arbeiten laut AK so viele Stunden wie in kaum einem anderen EU-Land: konkret 40,8 Stunden. Nur Schweden und Zypern liegen noch darüber. Umgekehrt ist in Österreich der Anteil der Teilzeitbeschäftigten extrem hoch. Ganze 30,5 Prozent arbeiten laut Statistik Austria in Teilzeit – mit einem extremen Ungleichgewicht hinsichtlich der Geschlechter: Bei Männern waren im Jahr 2022 12,6 Prozent in Teilzeit; bei Frauen ganze 50,7 Prozent.

Wir arbeiten längst kürzer

Was folgt daraus? Eine gesetzliche Arbeitszeitverkürzung würde die Arbeit gar nicht so sehr verkürzen – sie ist ja schon ziemlich kurz. Vielmehr würde sie gleichmäßiger verteilt. Viele Frauen, die derzeit Teilzeit arbeiten, würden in die Vollzeit hinaufrutschen, samt allen finanziellen und rechtlichen Vorteilen. Umgekehrt würden Vollzeitangestellte weniger arbeiten.

Keynes jedenfalls lag mit seiner Prophezeiung aus dem Jahr 1930 nur auf den ersten Blick falsch. Lediglich in seinem Glauben, dass 15 Stunden pro Woche genug sein würden, erweist er sich nachträglich als allzu optimistisch. Grundsätzlich jedoch schätzte Keynes richtig, dass dereinst viel weniger Arbeitsstunden reichen werden, um ein hohes Niveau an Wohlstand, Waren und Dienstleistungen zu erwirtschaften.

Allerdings hat der Ökonom garantiert nicht damit gerechnet, dass die Stundenreduktion derart ungeplant erfolgt. (Joseph Gepp, 27.5.2023)