Nachdem der serbische Präsident Aleksandar Vučić durch eine Massendemonstration vergangene Woche, als etwa 100.000 Menschen gegen eine "Kultur der Gewalt" in Belgrad auf die Straße gingen, unter Druck geraten war, ließ er diesen Freitag als Antwort seine Anhänger aus dem gesamten Land mit Bussen nach Belgrad karren

Vucic
Aleksandar Vučić will mit der Massenveranstaltung beweisen, dass seine Machtbasis solide ist.
REUTERS/Marko Djurica

Nach mehreren Amokläufen Anfang Mai wurde in Serbien zudem zunehmend Kritik an den TV-Sendern geübt, die das autokratische Regime von Vučić stützen und in denen Gewalt verharmlost wird und Verbrecher – unter anderem Kriegsverbrecher – zu Wort kommen, als wären sie Teil der Mitte der Gesellschaft. Die Demonstration von vergangener Woche war die größte seit dem Sturz des Regimes von Slobodan Milošević im Jahr 2000. Sie zeigte die Verzweiflung und die Empörung von vielen Serbinnen und Serben, nachdem bei zwei Schießereien Anfang Mai 16 Personen zu Tode gekommen waren und das Regime nicht adäquat auf diese Gewalttaten geantwortet hatte.

Inszenierung im Nordkosovo

Wie bereits mehrmals in der Vergangenheit versuchte Vučić auch am Freitag, durch die Inszenierung von Konflikten im Nordkosovo von der innenpolitischen Situation abzulenken. Vučić erteilte der Armee kurz vor 14 Uhr den Befehl, die Kampfbereitschaft auf das höchste Niveau zu erhöhen. Verteidigungsminister Miloš Vučević sagte, die serbische Armee würde an die Grenze zum Kosovo gebracht und die Souveränität Serbiens und das Recht auf Leben aller seiner Bürger verteidigen. "Es ist klar, dass Terror gegen die serbische Gemeinschaft im Kosovo verübt wird", meinte Vučević.

Der Hintergrund: Nachdem in den vier hauptsächlich von Serben bewohnten Gemeinden im Norden des Kosovo Albaner zu Bürgermeistern gewählt worden waren, weil die meisten Serben auf Anweisung von Belgrad die Lokalwahlen boykottiert hatten, nahmen diese nun ihre Arbeit auf. In den Gemeinden im Norden waren am Freitag Sirenen zu hören, und die Bürger wurden aufgefordert, sich vor den Gemeindeämtern zu versammeln, um die neuen Bürgermeister am Betreten zu hindern. Deshalb waren auch Sonderpolizeieinheiten in den Nordkosovo gekommen. In Zvečan setzte die Polizei Tränengas und Schockbomben ein, auch Schüsse waren zu hören. Ein Fahrzeug der Polizei wurde demoliert und angezündet. Viele Serben aus dem Nordkosovo waren indes zur Vučić-Kundgebung nach Belgrad gereist.

Unruhen in Zvečan.
REUTERS

Neue Bewegung

Vučić hatte außerdem bereits vor einiger Zeit angekündigt, dass er den Vorsitz der Serbischen Fortschrittspartei (SNS) zurücklegen werde – was er eigentlich ohnehin vor Jahren laut der Verfassung hätte tun müssen. Dies bekräftigte er am Freitag in Belgrad: Ab Samstag werde er der Präsident "aller Bürger" Serbiens sein. Er plant auch eine neue politische Bewegung oder Partei zu gründen. Beobachtern in Belgrad zufolge könnte Vučić damit zwei Dinge erreichen: Erstens könnte er sich von Mitgliedern der SNS distanzieren, die durch Korruption und Kriminalität auffällig wurden, und sich als Chef einer neuen, "sauberen" Bewegung installieren.

Zweitens aber könnte durch die Schaffung einer Satellitenpartei nach Vorbild von Einiges Russland sein Machterhalt im Land noch besser ausgebaut werden. Extreme Nationalisten und Scharfmacher würden möglicherweise in der SNS bleiben, und er könnte sich selbst als moderater darstellen. Offen blieb am Freitagnachmittag, ob Vučić den Parteivorsitz in diesen Tagen zurücklegen wird.

Seit den Morgenstunden waren bereits Busse aus dem gesamten Land, aber auch aus dem Kosovo und aus Bosnien-Herzegowina nach Belgrad gekommen. Laut den Organisatoren sollte es das "größte Treffen in der Geschichte Serbiens" werden. Nach Demonstrationen von Regimegegnern im Jahr 2019 hatte Vučić ebenfalls seine Anhänger anreisen lassen. Damals waren auch Leute aus Wien gekommen. Ähnliche Massenveranstaltungen gab es in Serbien auch in den 1980er-Jahren mit und für Präsident Slobodan Milošević.

Die SNS-Kundgebung, die zuvor als "größte, je in Belgrad gesehene Versammlung von Menschen" angekündigt worden war, wurde durch einen starken Regen in die Schranken gewiesen. Viele Menschen, die schon in den frühen Morgenstunden aus allen Landesteilen, aber auch aus dem Kosovo, aus Montenegro, Nordmazedonien und der bosnischen Republika Srpska angereist waren, haben diese nämlich noch vor dem Auftritt von Vučić verlassen.

TV-Sender machen mobil

Manche der Vučić-Anhänger trugen am Freitag T-Shirts mit seinem Konterfei, andere mit den Logos der TV-Sender Pink TV und TV Happy. Auch Mitarbeiter öffentlicher Unternehmen und staatlicher Institutionen wurden aufgefordert, nach Belgrad zu reisen, um ihre Loyalität Vučić gegenüber zu bekunden. In Serbien und anderen Staaten in Südosteuropa bekommen Bürgerinnen und Bürger nämlich nur dann einen Job in der öffentlichen Verwaltung, wenn sie der entscheidenden Partei beitreten.

Aleksandar Vučić
In Dutzenden von Bussen wurden Anhänger von Aleksandar Vučić herbeigekarrt.
AP Photo/Marko Drobnjakovic

Vor einigen Tagen forderte die unabhängige Gewerkschaft der Pädagogen in Serbien Bedienstete im Bildungsbereich, die unter Druck stehen, gegen ihren Willen zu der politischen Kundgebung mitzufahren, auf, sich zu melden, um rechtlichen Beistand und Unterstützung zu bekommen.

"Willkommen, Verräter"

In Belgrad waren auch Proteste gegen die Vučić-Massenveranstaltung bemerkbar. Auf einer Fußgängerbrücke oberhalb der Autobahn, die nach Belgrad führt, platzierten Unbekannte ein Transparent mit der Aufschrift "Willkommen, Verräter". Dobrica Veselinović von der Bewegung "Wir geben Belgrad nicht her" meinte: "Heute organisieren sie eine Show, bauen größenwahnsinnige Bühnen auf, bringen Busse, lassen Drohnen aufsteigen, stellen Kameras auf. Sie schaffen ein Spektakel, verteidigen ihr Fehlverhalten, ihre Nachlässigkeit, ihre Ignoranz. Tatsächlich aber haben sie Angst. Wir haben ihnen bereits gezeigt, dass das Ende nahe ist. Der Wandel ist da."

Die Durchsetzungsfähigkeit und der hohe Organisationsgrad des Regimes waren allerdings auch offensichtlich. Auf Plakaten auf einem Zug, in dem die Kundgebungsteilnehmer anreisten, war am Freitag "Immer bei Vučič" zu lesen, Sandwiches aus Sackerln mit einem Bild von Vučić wurden an die Menschen verteilt. Gerüchte machten die Runde, dass Leute auch dafür bezahlt würden, an der Massenveranstaltung teilzunehmen. Sie sollen zehn bis 50 Euro dafür bekommen.

Retter und Opfer

Der Machterhalt für Vučić beruht auf Medien wie Pink und Happy, die unter seiner Kontrolle stehen, aber auch darauf, dass die Bürgerinnen und Bürger mit einer beständigen Propaganda berieselt werden. Zu den Hauptnarrativen dieser Propaganda gehört, dass Serbien sich angeblich verteidigen müsse, weil es von Feinden bedroht werde; dass Vučič der Retter Serbiens sei und sich für sein Land aufopfere; dass die EU und die USA, aber auch die Nato Serbien angeblich Böses wollten. China und Russland werden hingegen gepriesen. Viele Bürgerinnen und Bürger Serbiens glauben dieser Propaganda und denken tatsächlich, diese Botschaften würden der Realität entsprechen. Kritische Stimmen werden gleichzeitig gezielt diskreditiert und zuweilen auch kriminalisiert.

Zu den Säulen des Regimes gehört aber auch der Einsatz von Gangs und Fußballfans, die mithilfe von Gewalt die Interessen des Regimes "verteidigen". Zuletzt wurde ein Video mit dem Generalsekretär der Regierung Serbiens, einem ehemaligen Vorstandsmitglied des Fußballvereins Partizan Belgrad, Novak Nedić, veröffentlicht, das zeigt, wie er eine Gruppe schwarzgekleideter Männer durch die Straßen von Pančevo führt. Sie wurden offenbar angeheuert, um die Blockade der in dieser Stadt protestierenden Bauern aufzuheben.

Entlassung von Vulin gefordert

Am Samstag soll erneut eine Demonstration der Zivilgesellschaft unter dem Motto "Serbien gegen Gewalt" stattfinden. Die Demonstrantinnen und Demonstranten wollen vor das Gebäude des öffentlichen Rundfunks ziehen. Die Zivilgesellschaft fordert die Entlassung von Innenminister Bratislav Gašić, des Pro-Kreml-Mannes, und von Geheimdienstchef Aleksandar Vulin sowie der Mitglieder des Rats der Regulierungsbehörde für elektronische Medien (REM), ebenso die Aussetzung der nationalen Frequenzen für die Fernsehsender Pink und Happy und das Verbot von Printmedien, die Gewalt, Kriminalität und Unmoral fördern.

Vulin traf sich übrigens diese Woche in Moskau mit Russlands oberstem Geheimdienstmitarbeiter Nikolai Patruschew, wie das Kreml-Portal Sputnik am Donnerstag mitteilte. (Adelheid Wölfl, APA, 26.5.2023)