Aki Kaurismäki
Ein Hund spendet der Arbeiterin Ansa (Alma Pöysti) in Aki Kaurismäkis "Fallen Leaves" Trost.
Sputnik / Malla Hukkanen

Es sei ein guter Jahrgang, wird der Cannes-Novizin zugesichert, und damit ist nicht der Wein gemeint, sondern der diesjährige Wettbewerb, der seit fast zwanzig Jahren unter Thierry Frémaux’ künstlerischer Leitung steht. Neu an dessen Seite ist erstmalig eine Frau und Nichtfranzösin. Iris Knobloch wurde 2022 zur Präsidentin des Festivals berufen. Die Deutsche war lange Zeit für Warner Bros. tätig und soll in ihrer dreijährigen Amtszeit den Konflikt lösen, der zwischen Cannes und den Streamingdiensten, insbesondere Netflix, schwelt. Anders als Venedig besteht das Festival von Cannes auf einer Priorisierung des Kinostarts, zumindest für eine gewisse Zeit. Netflix etwa hat sich dazu noch nicht durchgerungen.

So ist denn auch Martin Scorseses Verbrecher-Epos Killers of the Flower Moon der einzige Streamingfilm in Cannes. Apple produzierte den Dreieinhalbstünder, nachdem Netflix die Produktion des noch längeren The Irishman übernommen hatte. Im Wettbewerb lief Killers ... nicht, obwohl Apple den Kinostart zusicherte. Gefragt, warum er nicht um die Palme ringen wollte, erwiderte Scorsese, er wolle den Platz für Jüngere freimachen.

Abschiede & Comebacks

Die Absicht war ehrenwert, eingelöst wurde sie indes im diesjährigen Cannes-Wettbewerb nur zögerlich, waren doch mit Marco Bellocchio, Wim Wenders oder Ken Loach drei Veteranen im Rennen, die wie Scorsese um 1940 geboren wurden. Deren Filme hielten jedoch nicht nur Bekanntes bereit. Während Nanni Moretti und Ken Loach ihre Abschiedswerke vorzulegen schienen, gelangen Wim Wenders und Aki Kaurismäki Comebacks.

Aki Kaurismäki machte sich am roten Teppich einen Spaß mit Thierry Frémaux
APA/AFP/LOIC VENANCE

Wenders in Japan gedrehter Perfect Days überraschte positiv. Im beengten 4:3-Format erzählt er eine Woche aus dem Leben eines Toilettenputzers (toll: Kōji Yakusho), der zu einem 1970er-Jahre-Kassetten-Soundtrack eine stoische Lebensfreude ausstrahlt. Eine feine Miniatur, die der Sentimentalität knapp entkommt. Ganz ähnlich verhält es sich mit Kaurismäkis Arbeiterliebesgeschichte Fallen Leaves: Er säuft, ihr gefällt das nicht, er hört auf, Happy End. So viel zum Plot, der eigentlich nur dazu dient, Kaurismäkis farbgesättigte, romantische Kinofantasie auf die Leinwand zu bannen. Ein schöner, melancholischer Film, der sich wie Perfect Days auf eine (je verschieden verstandene) Essenz des Kinos beruft.

"Fallen Leaves" Trailer
The Match Factory

Geschichte & Gespenster

Ein Gespenst ging auch um in Cannes (und nicht nur in österreichischen Landtagswahlen): das des Kommunismus respektive Sozialismus. Naturgemäß bei Kaurismäki, aber auch bei Nanni Moretti, der eine Kreuzung aus Fellini und Gramsci vornimmt, indem er einen Film im Film über die kommunistische Partei Italiens während der 1950er-Jahre dreht. Außerdem – wenig überraschend – bei Ken Loach, der mit The Old Oak seinen Brexit-Film zeigte. Darin widmet Loach sich einer Kohlearbeiterstadt in Nordengland, in die syrische Familien logiert werden. Es kommt zu Spannungen, die schlussendlich mit einer melancholisch-utopischen Schlusseinstellung befriedet werden. Das wirkt beklemmend desillusioniert.

In anderen Filmen wirken wiederum die Figuren gespenstisch unbeteiligt, etwa der Protagonist in Nuri Bilge Ceylans fesselndem About Dry Grasses oder Jessica Hausners Ensemble in Club Zero. Am befremdlichsten aber ist das KZ-Kommandantenehepaar Höss in The Zone of Interest, verkörpert von Christian Friedel und Sandra Hüller. Regisseur Jonathan Glazer widmet sich in seinem Comeback – hat doch der Brite seit Under the Skin (2013) keinen neuen Spielfilm vorgelegt – sprichwörtlich der Banalität des Bösen. Glazers formalistisch-ausgeklügelte Beobachtung des Alltags vor den Toren des KZs gehört denn auch zu den kontroversen Favoriten des diesjährigen Wettbewerbs. Auf dem Filmmarkt, der Cannes ebenso ausmacht wie die glamurösen Premieren, war der von A24 produzierte Film jedenfalls heiß begehrt.

Tops & Flops

Die deutsche Schauspielerin Sandra Hüller beeindruckt außerdem als des Mordes an ihrem Mann verdächtigte Schriftstellerin in Anatomy of a Trial, einem auf den Punkt inszenierten – wie auch Todd Haynes’ May December von der Kritik gefeierten – Gerichtsdrama der Französin Justine Triet, die zum zweiten Mal im Wettbewerb von Cannes vertreten ist. Der Darstellerinnenpreis dürfte Hüller gewiss sein.

Anatomy of a Fall (Anatomie d'une Chute) new clip official - Cannes Film Festival 2023 - 1/2
The Upcoming

Mit sieben Regisseurinnen im Wettbewerb stehen die Chancen gut, dass heuer eine weitere Frau gewinnen wird. Nach Jane Campion (The Piano, 1993) und Julia Ducournau (Titane, 2021), die auch in der Jury sitzt, wäre das die dritte Goldene Palme für eine Regisseurin in der Geschichte des Festivals. Neben Triet zählt auch Alice Rohrwacher mit ihrem zauberhaften Grabräuber-Märchen La Chimera zu denjenigen, die auf einen Preis hoffen dürfen, ebenso wie die Tunesierin Kaouther Ben Hania mit der eindringlichen Radikalisierungs-Dokumentation Four Daughters.

Durchgefallen bei der internationalen Kritik sind indes das Sean-Penn-Vehikel Black Flies (Regie: Jean-Stéphane Sauvaire) und Jessica Hausners Club Zero. Doch die auf stilisiert-komische Distanz setzende Filmsprache der Österreicherin könnte trotzdem den Juryvorsitzenden Ruben Östlund überzeugen. Aufgelöst wird das Rätsel am Samstagabend, wenn in Cannes die Preise vergeben werden. (Valerie Dirk aus Cannes, 27.5.2023)