30 Prozent der Konsumentinnen und Konsumenten entscheiden emotional - für die gibt es Gesetze wie eine zweiwöchige Rücktrittsmöglichkeit, so Autor Daniel Kahnemann.
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Ein Schläger und ein Ball kosten zusammen 1,10 Euro. Der Schläger kostet einen Euro mehr als der Ball. Wie viel kostet der Ball? Die Frage klingt einfach – und wird meist falsch beantwortet: Zehn Cent, schießen selbst Mathematikprofessoren heraus. Wer aber kurz pausiert und nachrechnet, stößt bald auf die richtige Antwort: Es sind fünf Cent. Denn bei zehn Cent müsste der Schläger 1,10 Euro kosten. Dann wäre der Gesamtpreis 1,20 Euro.

Zwei Systeme

Für den Psychologen Daniel Kahneman, dem Vater der Verhaltensökonomie, ist das "Schläger-und-Ball-Problem" eine perfekte Illustration für die zwei Denksysteme, mit denen der Mensch arbeitet: Im System 1 denkt man schnell und intuitiv und folgt automatisch einfachen Regeln, die im Gehirn abgespeichert sind und jederzeit abgerufen werden können. Das System 2 zwingt uns zum bewussten Nachdenken. Dabei setzen wir alle unsere geistigen Fähigkeiten ein, um die beste Entscheidung zu treffen.

Wir brauchen beide Systeme, um als Menschen zu funktionieren und zu überleben. Wer in der Savanne ein bedrohliches Geräusch hört, kann nicht lange überlegen, sondern muss rasch handeln. Das gilt auch für das Autofahren, für das Lesen von Schildern und Einkaufslisten und für tausende andere Dinge, die wir im Alltag tun. System 1 ist die hocheffiziente Eingreiftruppe des Lebens.

Keine Pause beim 100-Meter-Lauf

Das lässt sich besonders gut im Sport beobachten, sagt der Verhaltensökonom Gerhard Fehr in Zürich, der Unternehmen berät, wie sie diese Lehre in der Praxis anwenden können. "Bei einem 100-Meter-Lauf kann man keine Pause machen, da läuft ein unbewusster Prozess im Körper ab", sagt er. "Auch vor einem genialen Schuss denkt ein Fußballer nicht nach." Ebenso würden sich Topmanager, Ärzte und Ärztinnen sowie viele andere Profis sich in vielen Situationen auf ihre – durch Erfahrung gestählte – Intuition verlassen.

Aber System 1 kann auch irren – und tut das allzu oft. Es arbeitet mit geistigen Abkürzungen, die uns leicht in die Irre führen – so wie bei der Schläger-und-Ball-Frage. Kahneman nennt es die "mentale Schrotflinte", die nicht besonders gut zielt.

System 2 kann hingegen rechnen, analysieren, Erinnerungen abrufen und gelangt dann zu verlässlicheren Ergebnissen. Aber dieser Prozess kostet uns viel Energie, was sich physiologisch an den Pupillen und am Kalorienverbrauch messen lässt. Und der Mensch spart mit Energie, wo er kann.

System 2, schreibt Kahneman in seinem 2011 erschienenen Bestseller Schnelles Denken, langsames Denken, ist träge und faul. Statt all seine Fähigkeiten zu mobilisieren, stützt sich System 2 daher gerne auf die geistigen Abkürzungen, die vom System 1 bereits eingeschlagen wurden – und findet für sich dann scheinbar rationale Erklärungen, warum das bloß Vermutete sicherlich das Beste ist.

Voreilige Schlussfolgerungen

Heuristiken werden diese Denkprozesse in der Psychologie genannt, das Wort hat die gleiche Wurzel wie das griechische "Heureka". Sie sind im Alltag äußerst nützlich, weil sie Zeit und Energie sparen, und sie schenken ein Gefühl der Sicherheit. Aber allzu oft münden sie in voreiligen Schlussfolgerungen, die man mit etwas Nachdenken vermeiden könnte. Die Kunst der richtigen Entscheidungsfindung ist es zu wissen, wann man sich auf sein Bauchgefühl verlassen kann und wann Bedenkzeit angebracht wäre.

Ist ein Anwärter für eine Führungsposition qualifiziert, wenn er als "intelligent und stark" beschrieben wird? Ja, lautet meist die spontane Antwort. "Sie haben überstürzt geurteilt", weist Kahneman das zurück und fragt weiter: "Was, wenn die nächsten beiden Adjektive ,korrupt‘ und ,grausam‘ lauteten?" Er untermauert seine These mit den eigenen Erfahrungen als Berater der israelischen Armee, als er für genau solche Fragen ähnliche Fehlschlüsse machte.

Wirksames Priming

Statt alle notwendigen Informationen einzusammeln, trifft das faule System 2 auf Grundlage von dem, was das System 1 sieht, eine nur scheinbar überzeugende Entscheidung. Verfügbarkeitsheuristik wird dieses Phänomen genannt, oder als etwas sperrige Abkürzung WYSIATI, die für "What you see is all there is" steht – also etwa "Nur was man gerade weiß, zählt".

Sind Menschen mit einer komplexen Frage konfrontiert, ersetzen sie diese gerne durch eine einfachere heuristische Frage, die auch System 1 beantworten kann. Wer gefragt wird, wie zufrieden man mit seinem Leben ist, wird sich in der Antwort nach der gegenwärtigen Stimmung richten. Wer spontan die Siegeschancen einer wenig bekannten Politikerin einschätzen soll, wird eine andere, einfachere Frage beantworten: Schaut diese Frau wie eine politische Gewinnerin aus? Wer entscheiden soll, eine bestimmte Aktie zu kaufen, wird auf den Kurs der letzten Monate schauen und sich davon eine Meinung bilden – ein Trend, der wenig über die Zukunft aussagt.

Deshalb funktioniert auch die Methode des Priming so gut, in der Werbung oder in der Politik: Unbewusste Assoziationen verändern die Perspektive und die persönliche Meinung. Kahneman zitiert eine Studie, bei der Menschen gefragt wurden, ob sie eine Schulinitiative unterstützen würden. Wurden ihnen zuvor Bilder von Klassenzimmern und Schulspinden gezeigt, stieg die Bereitschaft deutlich. "Der Effekt der Bilder war größer als der Unterschied zwischen Eltern und anderen Wählern", schreibt Kahneman.

Probleme mit der Statistik

Besonders wenn es um statistische Wahrscheinlichkeiten geht, begeht das System 1 systematische Fehler und wird vom System 2 zu selten korrigiert. Werden Menschen gefragt, ob ein stiller, penibler und schmächtiger Mann eher Bauer oder Bibliothekar ist, tippen die meisten auf den Büchereiberuf – obwohl es viel mehr Bauern in der Bevölkerung gibt und daher die Wahrscheinlichkeit für diese Tätigkeit höher ist. Ist gerade ein bestimmtes Unglück stark im öffentlichen Bewusstsein, dann fürchten sich die meisten vor einem ähnlichen Ereignis und nicht um viel öfter eintretende Kalamitäten. Deshalb wird die Gefahr, in einem Terroranschlag zu sterben, deutlich überschätzt und das Todesrisiko im Straßenverkehr unterschätzt.

Ganz lassen sich all diese Fehlleistungen nicht vermeiden, betonen Kahneman und andere Verhaltensökonomen, aber sie lassen sich verringern. Einerseits hilft es, sich dieser Phänomene bewusst zu sein und sich nicht auf die intuitive Urteilskraft zu verlassen, sondern innezuhalten und noch einmal nachzudenken, bevor man eine wichtige Entscheidung trifft. Andererseits ist es die Aufgabe des Staates, Menschen vor Fehleinschätzungen zu schützen. Hier widerspricht die Verhaltensökonomie der Vorstellung der klassischen Ökonomie, wonach Menschen rationale Agenten sind, die immer wissen, was gut für sie ist. "Econs" nennt Kahnemann dieses Modell des Homo oeconomicus und setzt ihm das Bild der weniger rational denkenden "Humans" entgegen. "Mehr als ‚Econs‘ brauchen ‚Humans‘ Schutz vor anderen, die gezielt ihre Schwächen ausnützen", schreibt Kahneman.

Daniel Kahneman, "Schnelles Denken, langsames Denken". € 17,– / 624 Seiten. Penguin-Verlag, München 2011
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Vermeidbare Fehler

Fehr verweist als Beispiel auf die Notwendigkeit von strengen Konsumentenschutzgesetzen. "70 Prozent der Menschen sind System-2-fähig und treffen konsistente Entscheidungen", sagt er. "Für die brauchen wir keinen Konsumentenschutz. Aber 30 Prozent entscheiden emotional, und für die gibt es Gesetze wie eine zweiwöchige Rücktrittsmöglichkeit." Auch die Wirtschaft benötige Regelwerke, um spontane Fehlentscheidungen Einzelner zu vermeiden, betont Fehr. "Wir brauchen Institutionen, die nicht vom System 1 abhängig sind", sagt er. Dazu zähle etwa eine politisch unabhängige Notenbank zur Bekämpfung der Inflation. "Denn die Politik ist vom System 1 getrieben."

In Unternehmen sollten größere Entscheidungen nicht von einem übermächtigen CEO getroffen werden, sondern von einem Team auf Grundlage genauer Verfahren – auf Neudeutsch Governance genannt. "Ein starker CEO ist einer, der die Governance des Unternehmens verbessert", sagt Fehr und zitiert seinen Bruder, den prominenten Verhaltensökonomen Ernst Fehr von der Universität Zürich. "Kapitalismus ist nichts anderes als eine organisierte Struktur, um das System 1 in den Griff zu bekommen."

Im Privatleben hat man keinen Vorstand, den man vor einer Entscheidung zurate ziehen kann, aber vielleicht Familie und Freunde. "Fehler, die aus dem System 1 hervorgehen, lassen sich prinzipiell leicht vermeiden", schreibt Kahneman. "Man solte die Anzeichen dafür erkennen, dass man sich in einem kognitiven Minenfeld bewegt, mental einen Gang zurückschalten und System 2 um Verstärkung bitten."

Kurz gesagt: eine Pause einlegen. (Eric Frey, 29.5.2023)