Wenn am Sonntag gewählt worden sein wird, wird der neue türkische Präsident wahrscheinlich wieder der alte sein. Auch wenn im Lager der Opposition zu Recht über Unregelmäßigkeiten zugunsten von Recep Tayyip Erdoğan im ersten Wahlgang geklagt wird und die gesamte Wahl – wie auch die Beobachtermission des Europarates moniert hat – insgesamt nicht fair war, bleibt doch unter dem Strich, dass Erdoğan auch nach 22 Jahren an der Macht immer noch einen großen Teil der Bevölkerung hinter sich hat. Dafür gibt es mehrere Gründe, die auf unterschiedlichen Ebenen liegen.

Erdogan
Recep Tayyip Erdoğan hat auch nach zwei Jahrzehnten viele Menschen hinter sich. In Istanbul jubelten sie ihm vor der Stichwahl zu.
REUTERS/Hannah McKay

Zum einen auf der realpolitischen Ebene dessen, was eine Regierung tatsächlich tut. Vor allem drei Bereiche sind dort für seine Wähler und Wählerinnen über lange Sicht besonders wichtig gewesen: Er hat das Gesundheitssystem modernisiert und für alle Leute, auch diejenigen, die wenig Geld haben, zugänglich gemacht. Das hat sich zuletzt auch deutlich während der Pandemie ausgezahlt.

Perfektionierte Spaltung

Zweitens, er hat angesichts einer stark wachsenden Bevölkerung den sozialen Wohnungsbau enorm angekurbelt, was es wiederum über einen längeren Zeitraum auch den weniger Wohlhabenden erlaubt hat, sich eine Wohnung zu kaufen. Und er hat dafür gesorgt, dass die Pensionen immer pünktlich bezahlt wurden. In allen diesen drei Politikfeldern gibt es auch viel zu kritisieren, aber unbestreitbar haben viele Menschen in den letzten 20 Jahren davon profitiert.

Die zweite Ebene, auf der Erdoğan seine Macht gefestigt hat, ist seine Identitätspolitik. Kein Politiker vor ihm hat die Türkei so tiefgreifend gespalten wie Erdoğan. Seit Jahrzehnten macht er Politik nach dem Schema: die und wir. Wir, das ist die konservative, gläubige sunnitische Bevölkerung, die zumeist auf dem Land lebt, die nach wie vor oft sehr traditionsverhaftet ist, auch wenn sie mittlerweile in die Stadt gezogen ist.

Die anderen, das sind die säkularen, ungläubigen Menschen, die den Gläubigen ihre Moscheen und die Kopftücher ihrer Frauen wegnehmen wollen. Dieser Konflikt zieht sich durch die gesamte Geschichte der türkischen Republik.

"Irrweg" der türkischen Republik

Als die junge Republik unter der Führung des im westlichen Saloniki groß gewordenen Mustafa Kemal Atatürk mit dem Erbe des Osmanischen Reiches brach, das Kalifat abschaffte, den Islam nicht mehr als Staatsreligion anerkannte und die Türkei bewusst durch die Einführung der lateinischen Schrift und die Schaffung von Institutionen nach westlichem Vorbild aus dem Nahen Osten herauslöste, setzte sie sich in scharfen Kontrast zu vielen Traditionalisten, die diese Veränderungen passiv und aktiv bekämpften. Erdoğans identitäre Botschaft ist: Wir werden diesen Irrweg der türkischen Republik beenden und unser Land wieder am Islam und an den erfolgreichen osmanischen Vorbildern ausrichten.

Diesen Konflikt zwischen Säkularen und Traditionalisten hat Erdoğan immer wieder angeheizt und für sich instrumentalisiert. Die Folge davon ist: Selbst wenn er, wie in den letzten Jahren geschehen, die Wirtschaft gegen die Wand fährt, würden die meisten seiner Anhänger und Anhängerinnen sich doch lieber ihre Hand abhacken, als einen säkularen Kandidaten wie Kemal Kılıçdaroğlu zu wählen.

Ein Vorfall hat das jüngst noch einmal verdeutlicht: In einer Moschee in einem Vorort von Istanbul hat ein Imam ganz offen zum Bürgerkrieg aufgerufen, falls Kılıçdaroğlu die Wahl gewinnen sollte. Er habe seine beiden Gewehre bereits geladen und sei vorbereitet, die Gemeinde solle ihm folgen. Als zwei Männer gegen diese Hetze protestierten, wurden sie von den anderen aus der Moschee gejagt. Als sie zur Polizei gingen, weigerte diese sich, eine Anzeige aufzunehmen. Nur weil die Rede des Imams auf Youtube ihre Kreise zog, sah sich das Religionsministerium gezwungen, wenigstens formal gegen den Prediger disziplinarisch vorzugehen.

Repression und Kontrolle

Die dritte Ebene von Erdoğans Machterhalt ist die Repression. Seit es ihm gelungen ist, die Justiz und den Sicherheitsapparat weitgehend auf sich zuzuschneiden, hat es sowohl die parlamentarische wie auch die außerparlamentarische Opposition sehr schwer. Im Parlament, aber auch in den Kommunen werden erfolgreiche Oppositionelle drangsaliert, indem man ihre Immunität aufhebt, sie mit Verfahren überzieht und am Ende häufig ins Gefängnis steckt.

Spätestens seit 2013, als ausgehend von ökologischen Protesten im Istanbuler Gezi-Park landesweit vor allem junge Menschen gegen Erdoğans zunehmend autoritärer werdende Identitätspolitik demonstrierten, wird jeder außerparlamentarische Protest im Land durch Polizei und Justiz niedergeschlagen. Die Politiker innerhalb der regierenden AKP, die damals eher auf eine Verständigung mit dem anderen Teil der Gesellschaft drängten, sind längst aussortiert worden. Stattdessen hat sich die AKP unter Erdoğans Alleinherrschaft immer weiter radikalisiert.

Dennoch hält der Widerstand gegen Recep Tayyip Erdoğan an. Bei fairen Wahlen hätte er wohl längst keine Mehrheit mehr, wie sich schon bei den Parlamentswahlen 2015 gezeigt hat. Das waren die letzten Wahlen in der Türkei, die noch einigermaßen normal verliefen. Seitdem wird getrickst, Oppositionspolitiker werden eingesperrt, Erdoğan-kritische Journalisten und Journalistinnen werden bedroht, Medien dichtgemacht.

Kilicdaroglu
Kemal Kılıçdaroğlu hofft trotz schlechter Prognosen auf einen Sieg.
IMAGO/SNA/Pavel Bednyakov

Trotz allem hofft die Opposition

Geht eine Wahl zuungunsten von Erdoğan aus, wie die Parlamentswahlen im Frühjahr 2015 oder die Kommunalwahl im Frühjahr 2019, sorgt er mit massivem politischem Druck dafür, dass sie wiederholt wird. Dass die erzwungene Wiederholungswahl in Istanbul dennoch der Oppositionskandidat gewann, ist einer der Gründe, warum die Opposition auch bei diesen Wahlen davon überzeugt ist, dass trotz allem ein Sieg möglich ist. So gesehen war es schon ein Erfolg, dass der Präsident in die Stichwahl muss.

Doch auch dann, wenn Erdoğan am Sonntagabend die Wahl noch einmal gewonnen haben sollte, neigt sich seine Ära ihrem Ende zu. Er hat fast alle Großstädte verloren, und der ganz überwiegende Teil der jüngeren Wähler lehnt sein autoritäres System ab. Dazu kommt, dass es für Erdoğan aus seinen eigenen Reihen keinen überzeugenden Nachfolger gibt. Das gesamte von ihm errichtete System hängt an seiner Person. Ohne Erdoğan wird es zwar auch künftig noch eine Art von Erdoğanismus in der Türkei geben – doch machtpolitisch wäre seine Partei am Ende. (Wolf Wittenfeld, 28.5.2023)