Wirklich genützt wird diese Zeit zum Austausch mit der Umgebung – reden wir also von einer "Austauschzeit", schreibt die Philosophin Alice Lagaay in ihrem Gastkommentar.
Gerade wenn es um Sommerpläne geht, denke ich noch oft an die Bemerkung einer meiner Mentoren aus Studienzeiten. Als es um das Thema Urlaub ging, sagte der exzentrische Professor: "Urlaub? Welch' bürgerliche Fantasie!" Das verblüffte mich, weil ich doch bis dato davon ausging, Urlaub, verstanden als "Auszeit" vom "Alltag", sei etwas Erstrebenswertes; etwas, wofür es sich lohne, zu arbeiten, Geld zu sparen und Pläne zu schmieden. Was daran kann man denn bitte nicht wollen, fragte ich mich lange.
Heute verstehe ich die Bedeutung dieser Bemerkung besser. Was der Professor damals meinte, war wohl: Wenn es zu den Ansprüchen einer Philosophin oder eines Philosophen gehört, die Erfahrungen des eigenen Lebens zu reflektieren und daraus Allgemeingültiges abzuleiten, wenn es demnach darum geht, eine Art der Lebensführung zu finden, in der das Philosophieren einen festen Platz hat, wie erstrebenswert kann es dann sein, eine "Pause" oder "Urlaub" davon zu machen? Denn dies hieße ja: Pause von der philosophischen Arbeit. Doch was würde man in dieser Pause tun? Was würde man im "Urlaub" erleben, das nicht relevant für das Denken wäre? Oder anders gewendet: Wenn das Erlebte für die Arbeit doch relevant wäre, inwiefern wäre es dann überhaupt eine "Auszeit"?
Kurze Unterbrechung
Dabei ist die Frage, wozu eine "Auszeit" gut sein soll, nicht nur für Philosophinnen und Philosophen, sondern für sämtliche Berufe von Bedeutung – auch wenn die jeweiligen Antworten unterschiedlich ausfallen mögen. So wird eine Pause meistens als kurze Unterbrechung einer Tätigkeit verstanden, die einen Szenenwechsel ermöglicht und in der man Kraft für die erneute, energetisierte Aufnahme der entsprechenden Tätigkeit sammeln kann. Die Pause steht also im Dienst der Arbeit, indem sie deren Effektivität durch kurze Unterbrechung steigert.
So ist es inzwischen ein Gemeinplatz geworden, dass uns die besten Ideen zwischen den Arbeitszeiten kommen: unter der Dusche, während eines Spaziergangs oder beim Rauchen auf der Veranda. Große Unternehmen haben dies längst erkannt und versuchen durch Tischtennisplatten oder Schlummerecken am Arbeitsplatz kreatives Kapital aus der Zeit zwischen den Aufgaben zu schlagen. Was das für die Individuen bedeutet, wäre sicher kritisch zu hinterfragen. Klar scheint jedoch, dass die Pause nicht als Leerstelle zu betrachten ist, sondern sie als essenzieller Teil zur Arbeit und damit zum Leben gehört. Die Pause ist nicht das andere, sondern müsste philosophisch viel ernster genommen werden, als dies derzeit der Fall ist.
Vor diesem Hintergrund nun tut sich eine potenziell folgenreiche Frage auf, die das wahre Potenzial der Auszeit erkenntlich macht: Suchen wir in der Pause und dem Urlaub vielleicht weder einen effizienzsteigernden Szenenwechsel noch Momente interventionsfreier Ruhe fern von allem Alltäglichen, sondern in Wirklichkeit eine tiefere Verbindung zu all dem, was uns umgibt, jenseits der ständigen Flut von einseitig hereinkommenden überfordernden Nachrichten? Oder anders formuliert: Vielleicht wünschen wir uns keine "Auszeit", sondern Zeit zum Austausch mit der Umgebung, "Austauschzeit" also. Dies würde eine Zeitstruktur mit viel Raum zum Einlassen und Ereignen-Lassen nötig machen, denn Hektik koppelt uns von uns selbst und unserer Umgebung ab – macht einsam und reaktionsunfähig. Dabei ginge es bei der Austauschzeit nicht in erster Linie um den Kontakt mit anderen Menschen, sondern um einen solchen mit dem eigenen Dasein in Relation zur (Um-)Welt. Der Wunsch nach "Auszeit" entspräche somit keinem Wunsch nach einem Aus-der-Zeit-Sein (was sollte das auch bedeuten?), noch wäre sie mit Außer-sich-Zeit treffend beschrieben. Gemeint wäre vielmehr eine In-Zeit. Im Gegensatz zur Auszeit wäre die In-Zeit nämlich eine Kombination aus "insight" (Einblick) und "in site" (ein Am-Ort- beziehungsweise "Da"-Sein).
Ausgeglichenes Leben
Läge der wünschenswerte Weg also nicht gerade in einem ausgeglichenen Leben in der Zeit, das tägliche Abwechslungen zwischen verschiedenen Tätigkeiten und Modi bietet? Ein Leben also, bei dem keine Aus-Zeit jenseits des Alltagsstresses notwendig wäre, sondern Pausen, Abwechslung und wirkliche Ruhe im Rahmen des aktiven und mit der Welt verbundenen alltäglichen Lebens selbst? Vielleicht ist das allerdings auch gerade die "bürgerliche Fantasie", von der mein Mentor sprach. (Alice Lagaay, 28.5.2023)