An der Leine zur Welt hängen die Sportler zum Trocknen. Gedopt durch das Übermaß an Endorphinen, nimmt ein jeder, eine jede das Gefühl mit in den Alltag: Da ist doch noch was.
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Das ist das Bild: Du rennst davon. Du fliehst. Läufst und kommst dennoch nicht vom Fleck. Aber auch deine Verfolger kommen nicht weiter. Und so bleibt, ermüdend und beängstigend, die reine Bewegung. Die Simulation des Davonlaufens. Scheinbar endlos geht das so dahin. Bis du erwachst und verwirrt in die Wirklichkeit blinzelst, noch aufgehängt an der Leine zwischen dem Traum- und dem Weltbild. Und so trocknest du für den alltäglichen Gebrauch. Nur ganz selten gelingt es, das Bild in den Tag mitzunehmen. Und wenn es gelingt, dann ist das kein Bild mehr. Sondern eher ein Gefühl. Eine Erinnerung: Da war doch noch was.

So ungefähr darf man sich das Verhältnis des Sports zur Welt vorstellen. Trauminhaltlich – was immer das auch traumdeuterisch zu bedeuten hat – sowieso. Das Laufen ist jedenfalls das dazu passende, ambitioniert sportive Bild. Aber auch formal passt es. An der Leine zur Welt hängen die Sportler zum Trocknen. Gedopt durch das Übermaß an Endorphinen, nimmt ein jeder, eine jede das Gefühl mit in den Alltag: Da ist doch noch was. Neben oder gar außerhalb dieser offensichtlich verrückter werdenden Welt.

Das gilt für aktive und passive Sportler gleichermaßen. Noch der bequemste Couchkicker versinkt gerne in seinem ersessenen Tun und entfernt sich solcherart aus dem eigentlichen Drumherum: der Mühsal, der Angst, der Armut, all den Fährnissen der weltlichen Unübersichtlichkeit. Beide aber – trainierte Läufer und Sitzmarathonisten – machen sich zugleich bereit dafür. Trainieren fürs Jammertal.

Ältere Schwestern

Weltfit durch Weltflucht: Das ist der Doppelcharakter nicht nur, aber eben auch des Sports. Er teilt das mit seinen beiden älteren Schwestern, der Religion und der Kunst. Auch die Schwestern waren ja stets so was wie Notausgänge aus der Realität. Fluchttüren ins Freie, wo es sich durchatmen lässt. Zufallen werden sie erst im finalen Fall der Fälle. Erst dann erreicht ein jeder die fürs Verlassen der Gravitation notwendige Fluchtgeschwindigkeit. Der in manchen Sportarten so outriert zur Schau getragene Todesmut verweist darauf.

Der Sport ist – noch – der Verspielteste in dieser Familie. Zwar ist auch in der Religion und erst recht in der Kunst das Spiel versteckt, aber meistens so, wie im Gesicht von Buster Keaton der Spaß. Der Sport ist aber auf dem besten Weg, den Schwestern nachzufolgen.

Aus der Religion stammt der Begriff dazu: Simonie. Auch die Kunst hat ihr Eigenes auf den Markt geworfen: den Zauber zweckloser Schönheit. Der Sport tut das gerade mit seiner spielerischen Leibhaftigkeit, in der es um tatsächliche Leistung in fairen Zusammenhängen ginge. Citius, altius, fortius. Nach und nach fängt das freilich an, sarkastisch zu klingen. Aus dem Zauber des entzweckten Spiels wird ein billiger, markentauglicher Zaubertrick von Werbefritzen. Wie er dem biblischen Magier, dem Simon Magus, vorgeschwebt ist. Lukas erzählt davon in der Apostelgeschichte. "Als aber Simon sah, dass durch das Auflegen der Hände der Apostel der Geist gegeben wurde, brachte er ihnen Geld und sagte: Gebt auch mir diese Macht. Petrus aber sprach zu ihm: Dein Geld fahre mit dir ins Verderben."

Nicht jeder hat die Kraft des Petrus. Im Verlauf des europäischen 19. Jahrhunderts wurden erst die Religion, dann die Kunst zu Kultursedimenten. Im Fin de Siècle entstand daraus, was man bis heute – da man schon begonnen hat, auf eine sogenannte Postmoderne zurückzublicken – Moderne nennt. Und so begann um die Jahrhundertwende die Zeit der Ismen. Impressionisten, Futuristen, Dadaisten, Surrealisten, alle bedurften der Manifeste. Manche davon ließen sich nur schwer von politischen Grundsatzerklärungen unterscheiden. Manche klangen wie Glaubensbekenntnisse.

Die Zelebrierung

In dieser Zeit, da Gott längst schon tot war und die Kunst irregeworden an sich selber, fingen die jungen Menschen an, dem Körper zu huldigen. Erst als Zerstreuung, was das lateinische disportare ja tatsächlich bedeutet. Die Zelebrierung des Körpers veränderte nebsther auch das Verhältnis der beiden Geschlechter zueinander. Beim Schwimmen kam man einander auf eine neue Art näher. Florian Berndl, der Urvater des Wiener Gänsehäufels und eine eremitische Erscheinung, galt denn auch schnell als Jugendverführer. Zeitgleich wurden manche Sportarten – allen voran der Fußball – zu einer neuen Art des Volkstheaters. In diesem konnte auch die Unterseite des neuen Zeitalters – das Proletariat – den Unerbittlichkeiten der industrialisierten Welt entfliehen.

"Money makes the world go round", besang Liza Minnelli eine der fundamentalen Funktionsweisen der modernen Welt. Der Baron Pierre de Coubertin, der längst unter der Rubrik "komische Käuze" gelistet worden ist, hat den Sport als bewusstes Gegenbild dazu gesetzt. Er gründete die dazugehörige Kirche. Dieses Olympische Comitée setzte – snobistisch, gewiss – jenes Zeichen, mit dem noch 1972 Karl Schranz hatte gebrandmarkt werden können. Denn der hatte sich, so verkündigte es der amerikanische Oberstolympier Avery Brundage, mit Simon Magus versündigt am Amateurparagrafen.

Verkaufte Seele

Seit João Havelange (Fifa-Chef 1974–1996) und Juan Antonio Samaranch (IOC-Chef 1980–2001) hatten sich freilich die beiden großen Weltsportverbände selbst auf den Strich des Marktes gestellt. Der Sport hat so gewissermaßen seine Seele verkauft – um Unsummen. Seither ist im Sport nur noch vom Geld die Rede. Selbst die ausdauerndsten Couchkicker reden über "Marktwert", "Fernsehrechte" und "Transfersummen".

Die Spannung, die der Sport doch in sich als sein Eigenes aufbaut, wird seither als Spannung der Shareholder auch von jenen empfunden, denen es egal sein könnte. Ein verwirrendes Phänomen unter den Stakeholdern. "Es geht um was" heißt: Es ist viel Geld im Spiel. Als wäre das Spiel selbst nicht ernst genug. Folgerichtig ist auch der Fußballer – und, seit es sie gibt, die Fußballerin – Teil des freizügigen europäischen Arbeitsmarktes.

Das vom belgischen Durchschnittskicker Jean-Marc Bosman 1995 erwirkte Grundsatzurteil des EuGH zerstörte die bis dahin gültige innerballesterische Ordnung. Der Wegfall der Ausländerregelungen machte die Großen größer und hielt die Kleinen klein. Falls die bockig werden, werfen Bayern, Real, ManUnited und wie sie alle heißen, das Stöckchen einer eigenständigen Liga. Verlässlich sprintet die Uefa los und apportiert folgsam. Der große Fußball ist – so hat das Adorno am Kunstbetrieb schon beobachtet – "in weitem Maß ein vom Profit gesteuerter Betrieb geworden, der weiterläuft, solange er rentiert und durch Perfektion darüber hinweghilft, dass er schon tot ist".

Und dennoch: Es bleibt ein sentimentaler Rest. Diese Erinnerung an das Gefühl oder das Gefühl einer Erinnerung: "Da ist doch noch was!" (Wolfgang Weisgram, 28.5.2023)