Ein Raum im Kokon ist nur für die Kunsttherapie gedacht. Die Wände und Böden dort sind inzwischen bunt gesprenkelt. Kinder und Jugendliche können malen, basteln, töpfern, häkeln – oder einfach Farbe an die Wand klatschen.
HELENA LEA MANHARTSBERGER

Mia setzt sich auf die Couch, nimmt ihre große, schwarze Sonnenbrille ab und klemmt sie vor ihren locker gebundenen Dutt. Nur bei Therapiesitzungen lässt sie sich direkt in die Augen schauen. Die restliche Zeit trägt sie Sonnenbrille, obwohl sie sich fast ausschließlich drinnen aufhält. Es ist eine schützende Schicht dunkles Glas zwischen ihr und dem Leben.

Mia will reden. In ihr ist so vieles, das raus muss, das besprochen gehört, das sie nicht allein mit sich herumtragen kann. Mia ist 17, aber sie hat schon mehr erlebt als die meisten Menschen in der dreifachen Zeit. Sie ballt ihre linke Hand und schiebt die Finger der anderen langsam in die Faust hinein. Gerade noch war sie aufgedreht und selbstsicher, zumindest an der Oberfläche, jetzt wirkt sie eingeschüchtert. Mia ist entweder ganz groß oder ganz klein. Es gibt wenig dazwischen.

"Eine Freundin von mir ist gestorben", sagt Mia.

"Was macht das mit dir?", fragt die Jugendpsychiaterin.

"Es ist okay. Aber ich fühle mich komisch, weil ich hier bin und nicht bei den anderen."

"Ist es eine gute Freundin gewesen?"

"Ja, schon. Da kommt so ein Strudel an Gedanken. Vor einem Monat ist eine andere Freundin von uns auch verstorben."

"Was ist denn da los bei euch?"

"Überdosis", sagt Mia.

Schwierige Veränderung

Mia ist autistisch veranlagt, das weiß sie aber noch nicht lange. Sie ist sehr schlau, liebt Mathe und Rätsel. In der Schule hat sie sich nie zurechtgefunden. Sie habe nicht verstanden, warum sie Aufgaben, die sie im Kopf gelöst habe, auch noch aufschreiben solle. Unnötige Mühe, sinnlos. Oder? Vor zwei Jahren hat sie die Schule abgebrochen und ist direkt zum AMS, zum Arbeitsamt. Jetzt ist sie hier im "Kokon" Bad Erlach, einem der wenigen Reha-Zentren für Kinder und Jugendliche. Ein Spezialgebiet dort: Mental Health.

Bei ihrem ersten Suizidversuch war Mia zehn Jahre alt. Es sei da so viel Wut und Angst und Panik und Trauer gewesen, sagt sie. Der Vater sei "problematisch" gewesen und sei irgendwann glücklicherweise ausgezogen. Mit der Mutter kämpft sie bis heute. Generell tut sich Mia (sie heißt in Wahrheit anders) mit sozialen Kontakten schwer, auch wenn man ihr das bei der ersten Begegnung kaum anmerkt.

"Ich wurde an der Abendschule genommen. Es tut sich etwas. Ich freue mich, aber Veränderung ist auch schwierig", sagt Mia.

"Eigentlich ist das ganz normal", sagt die Psychiaterin. "Es ist eine ganz normale Reaktion, wenn Veränderung bevorsteht, dass sich ein Teil in einem freut und sich ein anderer Teil fragt, ob man das wirklich will. Psychisch gesündere Menschen haben nur die Fähigkeit, die Wolken wegzudrängen."

"Ja."

Gemeinsames Lernen

Mia ist Teil eines "Turnus" in Bad Erlach. Ein Turnus dauert fünf Wochen. Eine Gruppe aus vier bis fünf Jugendlichen mit ähnlichen "Indikationen" kommt für diesen Zeitraum zusammen zur Reha. Sie essen gemeinsam, gehen gemeinsam ins Erdgeschoß zu einer Lehrerin, die ihnen hilft, in der Schule nicht völlig den Anschluss zu verlieren; sie haben gemeinsame Gruppentherapien, Kunsttherapie, besuchen gemeinsam den Kraftraum.

Dort zieht Mia gerade mit beiden Armen Gewichte an einer Seilkonstruktion in die Höhe und beobachtet sich dabei im Spiegel. Ihre Sonnenbrille hat sie wieder aufgesetzt. Daneben liegt Lara auf einer Matte und lässt sanft ihre Hüfte kreisen. Sie hat Rückenschmerzen. Sport machen möchte sie heute nicht, nur ein bisschen dehnen. Lara hat schöne lange Locken, ihr linker Arm ist mit kleinen Narben übersät. Eine neben der anderen, jede ein bis zwei Zentimeter lang. Die breite Bahn an verheilten Schnittwunden zieht sich bis unter ihre Achsel.

Das Reha-Zentrum "Kokon" in Bad Erlach wurde 2019 eröffnet und ist auch auf Jugendliche mit psychischen Erkrankungen spezialisiert – die Warteliste ist lang.
HELENA LEA MANHARTSBERGER

Der Kampf um Hilfe

"Psychische Probleme habe ich, seit ich drei oder vier Jahre alt bin", erzählt Lara später. Sie habe Erfahrung mit "verbaler Gewalt" und "mit allem anderen eigentlich auch". Lara ist 17. Schon als Volksschulkind hat sie begonnen, sich selbst zu verletzen. "Es ist eine Sucht", sagt sie. "Ärzte haben mir gesagt, ich werde nie davon wegkommen. Aber ich bin jetzt clean."

2021 hat sich Lara an ihre Eltern gewandt und ihnen gesagt, dass sie Hilfe braucht. Sieben Monate hat es gedauert, bis sie einen ersten Termin bei einem Psychiater bekommen hat. "Es ist traurig, dass es immer nur ums Geld geht", sagt Lara. "Meine Familie ist finanziell arm, und Psychotherapie kostet so viel. Freie Kassenplätze gibt es kaum. Kunsttherapie gibt es gar nicht auf Kasse."

Dabei ist Kunsttherapie der Lieblingsprogrammpunkt der meisten Jugendlichen hier in Bad Erlach. Mia und Lara stehen in einem bunt gesprenkelten Raum. Überall sind Farbflecken, auf dem Boden, an den Wänden. Mia hat aus Ton eine kleine Figur geformt, Lara hat ein Bild gemalt. Ob sie wirklich schon fertig sei, habe sie der Kunsttherapeut bei ihrer letzten Einheit gefragt. "Ich würde es gerne noch anzünden. Geht wohl nicht", hat Lara geantwortet. Kurz darauf sind sie mit einem Feuerzeug in den Hof gegangen und haben vier Löcher in das Bild gebrannt. Jetzt klopft Lara sanft eine abstehende Ecke neben einem Brandfleck zurück ans Passepartout. Die jungen Frauen behandeln ihre Werke wie kostbare Schätze. Es sind auch die kleinen Erfolge, die zählen.

Das lange Warten auf Psychotherapieplätze
In Österreich befinden sich ca. 70.000 Menschen in kassenfinanzierter psychotherapeutischer Behandlung. Benötigt würde etwa das Doppelte, um langes Warten zu vermeiden Der Artikel zum Video: https://www.derstandard.at/story/2000136258679
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Bereit für den Sehnsuchtsort

Das Kokon in Bad Erlach ist für viele Teenager mit psychischen Erkrankungen ein Sehnsuchtsort. Die Warteliste ist lang – und es gibt Voraussetzungen. Das Wichtigste ist: Jugendliche müssen bereit sein, etwas Neues auszuprobieren; bereit sein, an sich zu arbeiten, sich Ziele zu stecken, und versuchen, sie auch zu erreichen. Es ist ein Ort, an dem die Jugendlichen eine Pause vom Alltag bekommen, um sich intensiv um sich selbst zu kümmern – so die Krankenkasse es genehmigt. Außerdem müssen die Teenager stabil genug sein. Das Kokon ist ein lichtes, modernes Reha-Zentrum, keine geschlossene Anstalt.

Lian war dort auch schon oft – "in der Klapse", wie sie sagt. Sie heißt – wie alle anderen Jugendlichen – eigentlich anders. Lian hat sich aber auch selbst neu benannt, sich einen Namen gegeben, der für beide Geschlechter funktioniert. "Vor der Pandemie hab ich mich als pansexuell geoutet und dann während der Pandemie als nicht-binär." Die meisten Lehrer hätten das nicht akzeptiert, den Namenswechsel als Teil ihrer psychischen Probleme abgetan. Die meisten Lehrer hält Lian für unfähig, weil sie ihr nie helfen wollten, ganz im Gegenteil. "Sorry, aber stimmt", sagt die 16-Jährige.

"Ein paar Dinge sind in der Pandemie besser geworden, die großen Dinge sind schlechter geworden", sagt Lian. Um ihren Hals klemmen große Kopfhörer. Mit acht hat sie begonnen, sich selbst zu verletzen. Späte Diagnose: Borderline.

Schrei nach Aufmerksamkeit

Eines eint die Lebensgeschichten der drei jungen Menschen: Sie schreien schon lange nach Aufmerksamkeit. Alle drei haben das Gefühl, zu spät die richtige Hilfe bekommen zu haben. Und sie kritisieren, dass der Staat zu wenig für psychisch kranke Kinder tut. Jugendliche mit Mental-Health-Issues sind Expertinnen des österreichischen Gesundheitswesens. Sie wissen, wofür man wie viele Therapiestunden bewilligt bekommt, welche Einrichtungen es gibt und wie man dort hineinkommt. Sie kennen das System von innen – und wartend von außen.

Dina Ghanim ist Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und leitet den Mental-Health-Bereich im Kokon Bad Erlach. Sie hat ein kleines, hübsches Büro mit mehreren Polstermöbeln, auf denen die Kinder Platz nehmen, wenn sie zu ihr kommen. Auf dem runden Tisch in der Mitte des Zimmers steht eine große Box mit Taschentüchern. Die Statistik zeigt: Immer mehr Jugendliche leiden an psychischen Erkrankungen. Das erlebt Ghanim auch in der Praxis. 

"In den vergangenen Jahren hat es sich gehäuft", sagt sie – die Pandemie, die Klimakrise, aber auch der Ukrainekrieg belasteten viele junge Menschen; und sei es nur, weil die Eltern sich sorgen und die Kinder das spüren.

Die Statistik zeigt: Immer mehr Junge leiden an psychischen Erkrankungen.
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Waren Menschen früher gesünder?

Ein weiterer Faktor sind Internet und Social Media – im Guten wie im Schlechten, wie Ghanim sagt. Einerseits können sich Jugendliche viel einfacher informieren und austauschen. Anderseits steigt der Druck. Ständig sind Teenager mit dem vermeintlich perfekten Leben der anderen konfrontiert. "Durch die hohe Geschwindigkeit und die große Reichweite in der virtuellen Welt können Dynamiken entstehen, deren Auswirkungen wir in der realen Welt nicht ausreichend durchschauen – geschweige denn, dass wir darauf Einfluss nehmen können", sagt die Ärztin.

Lara erzählt aber auch: Ein "Internetfreund" habe sie schlussendlich dazu gebracht, dass sie zu ihren Eltern geht – und aktiv um Hilfe bittet.

Ghanim glaubt nicht, dass Menschen früher psychisch gesünder waren. Über manches sei erst gar nicht gesprochen worden, Probleme habe man eher hingenommen. "Inzwischen wurde das Thema enttabuisiert – zum Glück. Man konnte noch nie so offen über psychische Probleme reden wie jetzt."

"Kinder und Jugendliche werden in Österreich zu einem großen Teil nur notdürftig behandelt." Dina Ghanim, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie

Die aktuellen Zahlen sind dramatisch: Im Jahr 2022 war Suizid die häufigste Todesursache von 15- bis 19-Jährigen. Das zeigt zumindest eine Auswertung der "vorläufigen Daten" durch die Statistik Austria. Experten warnen schon lange, dass es in der Kinder- und Jugendpsychiatrie an Ressourcen fehle. Auch Ghanim sagt zur Gesamtsituation in Österreich: "Kinder und Jugendliche werden aufgrund eines massiven Ressourcenmangels zu einem großen Teil nur notdürftig behandelt." Plätze in Einrichtungen wie in Bad Erlach sind begrenzt.

Nur ein Puzzlestück

Lara hofft, dass sie "noch ein bisschen stabiler" ist, wenn sie die Reha abschließt. Lian wünscht sich, dass "die Aufenthalte in der Klapse danach seltener werden". Mia sagt: "Ich scheiß mich schon an, was ist, wenn ich hier rauskomme." Niemand erwartet sich nach fünf Wochen Reha ein Wunder. Bad Erlach ist nur ein Puzzlestück auf dem Weg.

Mia sitzt mit ihrer Ergotherapeutin auf einer Matte auf dem Boden und sortiert bunte Zettelchen. Es geht darum herauszufinden, was Mia hilft, wenn es ihr gerade nicht gut geht. In "akuten" Situationen helfe ihr nur noch "essen oder schlafen", sagt sie. Aber es gibt neue Dinge, die sie in ihren Alltag integrieren möchte, wenn sie unruhig wird oder genervt ist: einen Brief schreiben, frischen Zitronensaft trinken, Eis im Mund zergehen lassen, so etwas. Bei schlechtem Wetter will sie demnächst hinausgehen und ganz bewusst den Regen riechen.

Vielleicht sollten wir das alle machen. (Katharina Mittelstaedt, 1.6.2023)