Jane Fonda überreicht Justine Triet die Goldene Palme für
Jane Fonda überreicht Justine Triet die Goldene Palme für "Anatomie eines Falles"
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Am Samstagabend wurden die Preise der 76. Ausgabe der Filmfestspiele von Cannes vergeben. Die goldene Palme ging an Justine Triets Gerichtsdrama Anatomie eines Falles (Anatomie d'un chute), worin die großartige Sandra Hüller eine bisexuelle Schriftstellerin verkörpert, die im Verdacht steht, ihren Mann ermordet zu haben. Es sei ihr intimster Film bisher, sagte die 44-Jährige französische Regisseurin Triet, die den Preis von Jane Fonda entgegennahm. Auch hätte sie nicht damit gerechnet, meine Triet, die nach Sybil (2019) zum zweiten Mal im Wettbewerb von Cannes vertreten war – um schließlich zu einer politischen Rede gegen den neoliberalen, dominanzgetriebenen Kurs der Regierung Macron anzuheben.

Die Vermarktwirtschaftlichung der französischen Gesellschaft mache auch nicht vor dem Kino halt, so Triet. Deshalb widmete sie ihren Preis all jenen jungen Regisseuren und Regisseurinnen, die sich heute einen Platz in der französischen Filmlandschaft erkämpfen müssen (und die im Cannes-Wettbewerb vermisst wurden). Denn im neobliberalen Kulturbetrieb hätte man heutzutage nicht mehr die Chance, Fehler zu machen, daraus zu lernen und nochmals von vorne zu beginnen. Daraufhin schmiss ihr Jane Fonda glatt die Urkunde nach.*

Jane Fonda ist immer für Überraschungen gut und wirft Goldene-Palme-Gewinnerin Justine Triet die Urkunde nach.

Die Ausnahme bestätigt die Regel

Fonda hatte ihre Verleihungsrede damit angestimmt, dass sie das letzte Mal 1963 in Cannes war, zu einer Zeit, in der niemand daran dachte, die Präsenz von Regisseurinnen einzufordern. Dieses Jahr waren sieben vertreten, doch nur eine gewann einen Preis. Schade, dass damit das Bild der Ausnahmeregisseurin genährt wurde, wo doch mit den Filmen Alice Rohrwachers oder Kaouther Ben Hanias starke und eigenwillige weibliche Stimmen vertreten waren. Zumindest den Dokumentarfilmpreis L'Œil d'or konnte Ben Hanias Four Daughters ex aequo für sich gewinnen.

Die weiteren Hauptpreise gingen an Regisseure und wurden freundlich aufgenommen. Etwa der Preis der Jury für Aki Kaurismäkis Arbeiterromanze Fallen Leaves, der den Spiegel der internationalen Kritik angeführt hatte. Der Finne war bereits abgereist, seine Hauptdarsteller verlasen jedoch seine Nachricht: "Twist and Shake" gab Kaurismäki dem Premierenpublikum mit.

Ähnlich wohlwollend wurde auch der Regie-Preis an Tran Anh Hung für La Passion de Dodin Bouffant begrüßt – ein in Texturen und Geschäckern schwelgendes französisches Gourmetdrama mit Juliette Binoche und Benoît Magimel – das absolute Gegenteil zu Jessica Hausners Genussentsagung in Club Zero, der leer ausging.

Zuerst ist das Wort, dann der Film

Der Drehbuchpreis an den Japaner Yuji Sakamoto für Koreeda Hirokazus Monster erntete nur verhaltenes Klatschen im Pressesaal, ein paar Buhrufe sogar, denn der eindringliche Film über die Zuneigung zwischen zwei Schülern litt unter seinem arg verschachtelten Drehbuch. Dafür aber lenkte der Schauspieler John C. Reilly, der den Preis übergab, die Aufmerksamkeit mit Witz auf die streikenden Drehbuchtautoren und -autorinnen in den USA, denn ohne diese gäbe es keinen Plan, keine Worte und keine Ideen. Schließlich beginne jeder Film ja mit einer niedergeschriebenen Idee.

Kōji Yakusho gewann den Darstellerpreis für seine Rolle in Wim Wenders
Kōji Yakusho gewann den Darstellerpreis für seine Rolle in Wim Wenders "Perfect Days"
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Auch die Palme für den besten Hauptdarsteller ging nach Japan an Kōji Yakusho, der in Wim Wenders reduzierten Perfect Days eine Toilettenreinigungskraft in Tokio spielt. Absolut verdient, denn der freundlich wirkende Kōji Yakusho war der eindringlichste Darsteller des Wettbewerbs und ist ein Star in Japan.

Bei den Darstellerinnen hatte sich dagegen die Deutsche Sandra Hüller herauskristallisiert. Sie verlor aber gegen die großartige Merve Dizdar, die in Nuri Bilge Ceylans About Dry Grasses eine bemerkenswerte Nebenrolle spielt. Die türkische Schauspielerin war sichtlich überrascht und widmete den Preis all jenen Frauen, die um ihr Existenzrecht in dieser Welt kämpfen.

Merve Dizdar gewann den Schauspielpreis für ihre herausragende Neberolle in
Merve Dizdar gewann den Schauspielpreis für ihre herausragende Neberolle in "About Dry Grasses"
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Großer Preis der Jury an "The Zone of Interest"

Den Großen Preis der Jury übergaben Quentin Tarantino und Roger Corman, beides Ikonen des abgründigen Kinos. Der 97-jährige Corman wurde mit Standing Ovations bedacht und sprach: "Cannes – at last" (Endlich in Cannes). Den Preis gewann denn auch das abgründigste Drama und der meistbesprochene Film des Wettbewerbs, Jonathan Glazers The Zone of Interest, in dem Sandra Hüller die KZ-Kommandantenehefrau Hedwig Höss spielt, die sich an der Mauer zu Ausschwitz ein kleines Familienidyll aufgebaut hat. Ein beklemmender, formal ausgeklügelter Film, der zum Kinostart Diskussionspotential bereithält.

Damit war Sandra Hüller, nachdem ihr Durchbruch mit Toni Erdmann 2016 sträflich vernachlässigt wurde, doch der geheime Star des des 76. Festivals von Cannes, denn die Hauptgewinner The Zone of Interest und Anatomie eines Falles werden von ihrer eindringlichen und eigenwilligen Performance getragen. (Valerie Dirk, 27.5.2023)

Antoine Reinartz, Justine Triet, Sandra Hüller und der großartige Kinderdarsteller Milo Machado Graner haben sich die Goldene Palme mehr als verdient.
Antoine Reinartz, Justine Triet, Sandra Hüller und der großartige Kinderdarsteller Milo Machado Graner haben sich die Goldene Palme mehr als verdient.
EPA

Am Samstag wurden bei den Filmfestspielen die Hauptpreise vergeben. Die wichtigsten Auszeichnungen im Überblick:

  • GOLDENE PALME: "Anatomy of a Fall" von Justine Triet (Frankreich)
  • GROSSER PREIS DER JURY: "The Zone of Interest" von Jonathan Glazer
  • PREIS DER JURY: "Fallen Leaves" von Aki Kaurismäki
  • BESTE SCHAUSPIELERIN: Merve Dizdar für "About Dry Grasses" von Nuri Bilge Ceylan
  • BESTER SCHAUSPIELER: Koji Yakusho für "Perfect Days" von Wim Wenders
  • BESTE REGIE: Tran Anh Hung für "La Passion de Dodin Bouffant"
  • BESTES DREHBUCH: Yuji Sakamoto für "Monster" von Hirokazu Koreeda
  • CAMERA D'OR für den besten Debütfilm: "Inside The Yellow Cocoon Shell" von Thien An Pham
  • GOLDENE PALME für den besten Kurzfilm: "27" von Flóra Anna Buda 
  • PRIX UN CERTAIN REGARD für "How to have Sex" von Molly Manning Walker
  • QUEER PALM für "Monster" von Hirokazu Koreeda