Hans Wenzl erreichte 2017 den Gipfel des Everest und war alleine auf dem Dach der Welt.
Hans Wenzl

Die Nacht haben Edmund Hillary und Sardar Tenzing Norgay auf 8.500 Meter bei rund minus 30 Grad schlaflos verbracht. Immerhin waren sie mit Flaschensauerstoff versorgt. Im Morgengrauen des 29. Mai 1953 kriechen der Neuseeländer und sein nepalischer Sherpa aus ihrem Zelt und begeben sich bei nur von ein paar Wolken getrübtem Sonnenschein auf die letzte Etappe hinauf zum Gipfel des Everest, der nur rund 350 Meter, allerdings wegen der dünnen Luft knackige 350 Meter höher liegt.

Um das Gelingen der generalstabsmäßig vorbereiteten britischen Expedition zu ermöglichen, wurden weder Kosten noch Mühen gescheut. Unter der Leitung von John Hunt (42), einem britischen Offizier, schleppten rund 350 Träger und 20 Sherpas mehrere Tonnen an Material in das auf 5.500 Meter gelegene Basislager. Von dort aus wurde die Eroberung des Everest in kleinen Etappen mit gesamt neun Lagern gestartet. Nach rund einem Dutzend gescheiterten Versuchen mit insgesamt 13 Toten seit 1921 musste die Besteigung diesmal unbedingt gelingen, denn das bröckelnde British Empire konnte nur allzu dringend Erfolgsgeschichten brauchen und wollte sich einen der großen noch unerreichten Menschheitsträume auf seine Fahnen heften.

Nachdem der 33-jährige Hillary und sein sechs Jahre älterer Begleiter eine zwölf Meter hohe Felswand, die später den Namen Hillary Step erhalten sollte, überwunden hatten, erreichten sie gegen Mittag das auf 8848 Meter gelegene Dach der Welt. Die Erstbesteigung glückte nicht zufällig vier Tage vor der Krönung von Elizabeth II. zur Queen.

Edmund Hillary (li) und Sardar Tenzing Norgay nach ihrer erfolgreichen Everest-Besteigung.
AP/File

Ob Hillary oder Tenzing als Erster auf dem Gipfel ankam, ist nicht geklärt. Der Mann aus dem Khumbu-Tal im Himalaja wollte Hillary den Vortritt lassen, wie er in seiner Autobiografie "Tigers of the Snow" schreibt, doch Hillary gab an, dass sie den historischen Schritt gemeinsam unternommen hätten. Weil der neuseeländische Imker und Bergsteiger aus Leidenschaft seinem Begleiter hoch oben nicht das Fotografieren beibringen wollte, wie er später sagte, gibt es nur von Tenzing ein Gipfelfoto. Hillary wurde wenig später zum Ritter geschlagen und durfte sich fortan Sir nennen. Tenzing bekam lediglich ein paar Orden aufs Revers gesteckt.

Ob sie überhaupt die Erstbesteiger waren, ist unklar. Denn der Brite George Leigh Mallory war nach mehreren knapp gescheiterten Anläufen gemeinsam mit Andrew Irvine 1924 bei einem weiteren Versuch spurlos verschwunden. Mallorys Leiche wurde 1999 vom Berg freigegeben und gefunden. 1952 wäre Tenzing mit dem Schweizer Raymond Lambert beinahe die Erstbesteigung geglückt, sie mussten jedoch auf 8.650 Metern umdrehen. 

Hans Wenzl war 2017 bei unwirtlichen und nebeligen Verhältnissen alleine auf dem Gipfel. "Ich war total altmodisch unterwegs, ich hatte nicht einmal ein Funkgerät dabei. Es wusste niemand, ob ich noch lebe, oder zurückkomme, bis ich wieder im Lager war." Der mittlerweile 52-jährige Kärntner hat sich beim Aufstieg auf 8.500 Meter für eine Dreiviertelstunde in eine Mulde gelegt, weil der Wind zu stark war. Er konnte die Besteigung aber fortsetzen, während andere umdrehten oder voraus waren, weil sie im Gegensatz zu Wenzl Flaschensauerstoff verwendeten. Beim Abstieg ist er am Hillary Step, der 2015 bei dem schweren Erdbeben in Nepal fast komplett weggebrochen war, ein paar Meter über eine Wechte abgestürzt, war aber mit einem Seil gesichert. "In dem Moment braucht man viel Energie. Ich bekam keine Luft mehr und habe geglaubt, ich sterbe." 

Der Gipfel des Everest vom Südgipfel aus.
Hans Wenzl

Mittlerweile hat der als Polier bei einem Baukonzern arbeitende Wenzl zehn der 14 Achttausender ohne Flaschensauerstoff bestiegen. In Österreich hat nur Gerlinde Kaltenbrunner mehr, nämlich alle 8.000er-Gipfel erreicht. „Auf Flaschensauerstoff zurückzugreifen war nie eine Option für mich. Ich habe nie daran gezweifelt, dass ich es nicht auch ohne schaffen würde.” Es sei mehr eine mentale denn eine körperliche Angelegenheit. "Man kann einen Berg gedanklich noch höher machen, als er ist."

2019 hat Wenzl den K2 bewältigt. Beim Aufstieg tobte in der Nacht ein Sturm. Plötzlich Steinschlag. "Ich war auf 6.600 Meter, als fünf Zentimeter neben meinem Kopf ein Stein durch das Zelt radiert ist. Im ersten Moment wusste ich gar nicht, wo ich bin, weil ich aus dem Schlaf gerissen wurde. Und auf einmal musste ich mein Leben retten." Das Risiko zu sterben sei dort riesengroß. Es brauche sehr viel Glück. "Auf dem Manaslu habe ich mich gefragt, warum ich im Basislager war und nicht im Lager drei, wo ich eigentlich sein wollte und eine Lawine 14 Bergsteiger in den Tod riss."

Hans Wenzl auf dem Gipfel des K2, des mit 8.611 Metern zweithöchsten Berges der Welt.
Hans Wenzl

Am Everest wurde über die Jahrzehnte immer wieder Alpingeschichte geschrieben. Etwa als Reinhold Messner und Peter Habeler 1978 als erste Menschen ohne Sauerstoff aus der Flasche den Gipfel erreichten, oder als Hans Kammerlander 1996 in Rekordzeit hinaufstürmte und hernach auf Skiern abfuhr.

In den vergangenen Jahren ist der Everest immer besser erschlossen worden. Die Infrastruktur wird ausgebaut, die Wege werden präpariert und mit Fixseilen versichert. Und im Basislager wird mehr Komfort geboten. Die Folge ist, dass nun wesentlich mehr Menschen als früher den Aufstieg wagen. Alpinisten wie Messner kritisieren diese Entwicklung, beschreiben oder verurteilen sie als "Tourismus".

Es wird berichtet, dass der Respekt nachgelassen habe. Viele seien nicht optimal vorbereitet, würden über zu wenig oder keine Erfahrung verfügen, manche seien davor noch nie mit Steigeisen gegangen. Wenzl: "Der Everest ist Teil des Tourismus geworden, den Teilnehmern wird von den Veranstaltern alles vorgegeben. Man muss kein Bergsteiger mehr sein." Das betreffe aber vor allem Asiaten oder auch Amerikaner, nicht aber die Europäer. Die sozialen Medien befeuern den Run auf den Everest, glaubt Wenzl. "Der Mensch will sich immer präsentieren. Der Gipfel ist jetzt einfacher erreichbar. Jetzt braucht es Geld zum Einbuchen, ein bissl Fitness und die richtigen Sherpas, und dann hat man die Chance, raufzukommen." Speziell, wenn sich bis zu drei Sherpas um eine Person kümmern.

Rekord bei Besteigungsgenehmigungen

Diese Saison wurde mit 478 vergebenen Permits ein neuer Rekord erreicht. Seit 2019 kommt es immer wieder zu Staus. Wenzl: "Dann ist es ohne Flaschensauerstoff ganz schwierig, den Berg zu besteigen, weil man beim Warten viel mehr friert."

Beinahe täglich werden Todesmeldungen über soziale Medien verbreitet. Allein im Frühjahr sind zumindest zwölf Menschen auf dem Everest gestorben. Fünf werden noch vermisst. Laut Himalayan Database waren bis vor der Saison 6.338 Menschen auf dem Gipfel, 185 ohne Sauerstoff aus der Flasche. Immer wieder kam es zu Katastrophen. 1996 sind etwa nach einem Schlechtwettereinbruch acht Bergsteiger tödlich verunglückt. 2014 riss eine Lawine 16 Nepali in den Tod. Im Schnitt sterben im Frühjahr fünf Bergsteiger auf dem Everest.

Wenzl hat heuer ausgelassen, weil er Opa geworden ist. Der Kangchendzönga, der Lhotse und der Dhaulagiri fehlen ihm noch, den Shishapangma hat er bestiegen, aber nicht den Hauptgipfel. Er muss nicht unbedingt alle Achttausender bezwingen. "Das ist nicht so wichtig. Wenn es der Körper und die Gesundheit erlauben und ich den Willen habe, dann gehe ich."

"Urlaub" ohne Flaschensauerstoff

Der verheiratete Vater zweier erwachsener Söhne (27 und 29) ist ein Spätberufener, begann gemeinsam mit seinem Bruder mit dem Höhenbergsteigen, als der Steirer Gerfried Göschl, der 2012 verstorben ist, Bergsteiger für eine Expedition suchte. Mit 35 hat er seinen ersten Achttausender (Shishapangma, Zentralgipfel) bestiegen. Wenzl: "Es war nie mein Ziel, das profimäßig zu machen. Ich muss davon nicht leben, habe weniger Druck am Berg, sehe es unter Anführungszeichen mehr als Urlaub." Ob seine Frau gegen seine Urlaubspläne je ein Veto einlegt? "Sie versteht es, dass ich das zum Ausfüllen meines Lebens brauche." Ihn faszinieren die Dimensionen im Himalaja, und es reizt ihn, die Grenze für den Körper in der Höhe ohne Flaschensauerstoff auszuloten. "Mit Flaschensauerstoff etwas zu vertuschen ist für mich keine Zugangsweise."

Everest - Getting to the Top | National Geographic
National Geographic

"Wenn man geht", sagt Wenzl, "dann sollte man die Geschichte kennen. Mich hat immer interessiert, wer die Erstbesteiger waren, welche Route sie wählten. Der Berg ist ja nur Fels und Eis. Die Menschen, die ihn besteigen, machen ihn interessant."

Kami Rita posiert vor den Statuen der Erstbesteiger in Kathmandu. Rita ist mit Stand Mai 2023 der Rekordhalter. Er war bisher 27 Mal auf dem Gipfel des Everest.
AP/Niranjan Shrestha

Tenzing und Hillary sind Freunde geworden und geblieben. Norgay starb 1986 mit 71 Jahren an den Folgen einer Hirnblutung, Hillary erlag 2008 mit 88 einem Herzinfarkt. Im Rahmen der Gedenkfeiern wurden am Flughafen Tenzing-Hillary in Lukla goldene Statuen von den Erstbesteigern enthüllt. Tenzings Sohn Jamling sagte bei der Zeremonie: "Die Geschichte wurde vor 70 Jahren von diesen beiden einfachen, bescheidenen, liebevollen Herren geschrieben, die den Menschen im Himalaja alles zurückgaben, was sie konnten." (Thomas Hirner, 29.5.2023)