Im Eigenheim herrscht die aufgeräumteste Stimmung. Eine Tiktok-Influencerin (Ixchel Mendoza Hernández) besiedelt eine Matratze. Ihr synthetisches Loft wird von einer Laufschrift geziert, als wandmalerisches Menetekel darf der mehrmalige Hinweis "EXIT" gelten. Einzig und allein eine Küchenzeile befriedigt funktionsästhetische Bedürfnisse. In allen übrigen Wohnbelangen vertraut ANGELA – echt nur in Großbuchstaben! – auf penibelste Virtualität.
"ANGELA (a strange loop)" nennt sich die neue Wohn-Küchen-Installation der anglo-deutschen Regisseurin Susanne Kennedy, aus dem Hut nicht nur gezaubert, sondern generiert hat sie der Künstler Markus Selg. Zu sehen ist die in Brüssel erstaufgeführte Festwochen-Koproduktion in der Halle G des Museumsquartiers.
Zu sagen, die Zeit verginge wie im Fluge in diesem Oratorium für Beatmungsgeräusche und virtuelle Menschen, wäre glattweg gelogen. Eher schon sind es die unzähligen Teilchen, die Pixel und künstlichen Farbpigmente, die wie Schäfchen über die Bühne gaukeln und den Fortschritt von Zeit markieren. Kennedy hat keineswegs, wie der Titel meint, eine Schleife gebunden.
Ihre Protagonistin ANGELA ist, aufgrund akuter Immunschwäche, zu Tode erkrankt. Zugleich produziert sie viel zu viele Hormone. Woraufhin sie, nach kurzfristiger Verbringung in einen künstlich generierten Video-Wald, auf dem Küchentisch liegend einen Zwergmenschen aus dem Mund gebiert.
Alchemistisches Spektakel
Es handelt sich um eine Art Euphorion ("Faust II"), formschön verpackt in eine bonbonbunte Blase. Um die Geburtshilfe verdient machen sich ANGELAs Freund Brad – er beißt gerne in Äpfel – und ihre Freundin Susie. Vervollständigt wird das passionsgeschichtliche Personal durch die Frau Mama und einen kahlen Engel (Diamanda La Berge Dramm) mit Elektro-Violine, der meistenteils untätig auf der Bühne herumlümmelt, aber offenkundig die Verbindung hält zum lieben Gott. Dieser ist, aus theologisch nicht restlos einsichtigen Gründen, ein Kater mit drolligem Knautschgesicht.
Das Wesen sagt: "Remember this is merely a play. None of this is real." Umgekehrt hieß es gleich zu Anfang: Das Geschehen gründe auf realen Tatsachen. Einerseits verheißt der elektronische Beipackzettel ein dreifältiges, alchemistisches Wandlungsspektakel. Andererseits ist ANGELA, die alle paar Wochen ihre Video-Updates lädt und trotz ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigung ein reges Sozialleben unterhält, nach erfolgter Niederkunft so krank als wie zuvor. Man lernt während hundert langer Minuten, dringende Bedürfnisse nach Aufklärung hintanzustellen.
Irgendwann stellt sich dieser spezielle, leise süchtig machende Kennedy-Effekt ein: alles so schön künstlich hier. Die gesamte Menschheit klettert ihre Halbleiter empor und setzt sich nieder auf seltenen Erden. Da sämtliche Texte eingesprochen sind, agieren die Schauspieler lippensynchron zum eigenen Stück, natürlich jeweils um den Bruchteil eines Augenblicks verzögert. Das behagliche Schmatzen von McDonald's-Essern schwillt an zum gargantuesken Grauen. Der Biss in den Sündenapfel knackt wie Packeis im Nordmeer.
Nietzsche und Kubrick
Föten fliegen durchs Weltall. Wer unbedingt möchte, darf jetzt an Friedrich Nietzsche denken, ebenso an Stanley Kubrick. Der Soundtrack tönt nach alter Väter Weise, das heißt: wie Pink Floyd, etwa zur "Meddle"-Phase (1971). Von "Nigredo" und "Albedo" hangelt sich der Abend fort zu "Rubedo", es handelt sich um Fachbegriffe aus der ehrwürdigen Welt der Alchemie und ihren Substanzverwandlungen. Bitte fragen Sie das Suchsystem Ihres Vertrauens!
Am schwersten wiegt ein anderer Einwand. "ANGELA (a strange loop)" zerrt an den Nerven, zieht aber nicht in den Bann. Während die Fragen, die Kennedy ans Leben stellt, immer größer und maßloser werden, schrumpft – wenigstens diesmal – die Bühnenkunst. Die Computer kreißen, zur Welt kommt nur ein Kater mit Knautschgesicht. Das Publikum zeigte sich ob so viel Prätention bemerkenswert uneins. (Ronald Pohl, 29.5.2023)