Die Pflichtschullehrergewerkschaft erinnert an ein großes Problem im Schulbereich, das – so die Befürchtung – bei den laufenden Finanzausgleichsverhandlungen vergessen oder ein Opfer des machtpolitischen Kräftemessens zwischen Bund und Ländern im Gesundheitsbereich werden könnte: "Die Schulen brauchen dringend Hilfe im Bereich der sonderpädagogischen Förderung", sagt Gewerkschaftschef Paul Kimberger und fordert im STANDARD-Gespräch "eine Erhöhung der sonderpädagogischen Ressourcen. So, dass sie an den realen Bedarf angepasst sind und nicht durch einen skurrilen Gesetzesdeckel begrenzt werden, der nichts mit der schulischen zu tun hat".

Ruf nach sonderpädagogischer Hilfe
Die Lehrergewerkschaft fordert 3.000 zusätzliche Lehrkräfte, um Kinder, die mehr Unterstützung brauchen, auch angemessen unterrichten zu können.
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Den Deckel draufhalten

Derzeit orientiert sich die Ressourcenzuteilung für den Unterricht von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF) an einer Größe, die 31 Jahre alt ist. Laut Finanzausgleich von 1992 gibt es vom Bund für maximal 2,7 Prozent der Pflichtschüler, die wegen körperlicher oder psychischer Einschränkungen spezielle Unterstützung benötigen, zusätzliche Ressourcen.

Tatsächlich aber waren laut Statistik Austria im Schuljahr 2021/22 von den insgesamt 582.969 Kindern in Pflichtschulen 5,1 Prozent Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Auffällig und erklärbedürftig dabei ist die höchst unterschiedliche Verteilung je nach Bundesland (siehe Grafik unten).

Wie viele Kinder sonderpädagogischen Förderbedarf haben und wo sie in die Schule gehen
Die Zuerkennung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs (SPF) ist extrem unterschiedlich je nach Bundesland. Auch die Verteilung der SPF-Kinder auf Sonderschulen und in reguläre Klassen differiert sehr stark.
Grafik: DER STANDARD/Statistik Austria Foto: APA/Schneider

Während Tirol nur 2,8 Prozent SPF-Anteil aufweist, liegt er im benachbarten Salzburg bei 6,9 Prozent, also mehr als doppelt so hoch und weit über dem Österreich-Schnitt. In Wien und Oberösterreich gelten je 5,8 Prozent der Pflichtschulkinder als sonderpädagogisch förderbedürftig. Im Burgenland mit 3,6 Prozent und in der Steiermark mit vier Prozent wird das Label SPF hingegen deutlich seltener vergeben. Über dem Landesdurchschnitt liegen auch Niederösterreich (5,3 Prozent) und Vorarlberg (5,5).

Kimberger hält diese Definition an sich für absurd: "Das ist, soweit ich weiß, weltweit einzigartig, dass ein Land den Bedarf für die Schwächsten mit einer willkürlichen Größe per Gesetz festlegt."

Große Unterschiede gibt es übrigens auch bei der Klassenzuteilung: In Wien landet mehr als jedes zweite SPF-Kind in einer Sonderschule, in der Steiermark und in Kärnten werden indes vier von fünf Schülern mit sonderpädagogischem Mehrbedarf "integriert" unterrichtet. Österreichweit geht etwas mehr als ein Drittel der SPF-Kinder in eine Sonderschule, knapp zwei Drittel sind in regulären Pflichtschulen (Volks-, Mittel-, Polytechnische Schule). (siehe Grafik oben)

Theorie und Realität

Diese Kluft zwischen finanztechnischer Theorie und pädagogischer Praxis müsse endlich geschlossen werden, sagt Christgewerkschafter Kimberger. Ein 2,7-Prozent-Deckel ergibt bei insgesamt 120.000 Lehrerinnen und Lehrern 3240 Vollzeitdienstposten. Umgelegt auf den "durchschnittlich realen Bedarf" von aktuell rund 5,2 Prozent, der, so Kimberger, in den Zentralräumen zum Teil sogar zweistellig sei, wären hingegen 6240 SPF-Lehrkräfte nötig: "Uns fehlen also fast 3000 Dienstposten, um diese Kinder angemessen unterrichten und betreuen zu können."

Basierend auf den durchschnittlichen Jahreskosten für eine Lehrkraft (50.000 Euro) ergebe sich ein finanzieller Mehrbedarf in dreistelliger Millionenhöhe: "150 Millionen Euro werden dem Bildungssystem und hier konkret den Schwächsten in unserer Gesellschaft seit Jahrzehnten mit allen Konsequenzen vorenthalten – in diesem Fall durch den Finanzminister und die Landeshauptleute, die den Finanzausgleich verhandeln."

Die von 2017 bis 2021 laufende Finanzausgleichsperiode wurde angesichts der Corona-Pandemie und der besonderen Notwendigkeiten vorerst um zwei Jahre verlängert.

Kimberger appelliert an die Verhandler von Bund und Ländern, die Schulen nicht länger alleinzulassen, denn: "Die sehr herausfordernde sonderpädagogische Betreuung muss ja trotzdem durch die Pädagoginnen und Pädagogen gemacht werden, weil diese Kinder und Jugendliche das einfach für eine gute Zukunft brauchen."

Minister wartet Studie ab

Bildungsminister Martin Polaschek (ÖVP) will die Forderungen der Lehrergewerkschaft nicht kommentieren. Man warte auf die Ergebnisse einer von ÖVP und Grünen in Auftrag gegebenen Studie zur Vergabepraxis des sonderpädagogischen Förderbedarfs, hieß es auf STANDARD-Anfrage. In der zweiten Jahreshälfte soll das Forschungskonsortium, bestehend aus 17 Forscherinnen und Forschern von 13 österreichischen Universitäten und Pädagogischen Hochschulen sowie dem Institut für Höhere Studien (IHS), die Ergebnisse vorlegen. (Lisa Nimmervoll, 30.5.2023)