Dmytro Chyliuk wurde festgenommen, als er in den ersten Kriegswochen in seinem Haus in einem von russischen Truppen besetzten Gebiet nahe Kiew nach dem Rechten sehen wollte. Bei Iryna Horobtsowa, einer Aktivistin, lief das so: Zwei Autos mit aufgeklebten Z-Symbolen fuhren im März 2022 vor dem Haus ihrer Eltern vor, in dem auch sie wohnte, Uniformierte stürmten die Wohnung und nahmen die Frau mit. Am Abend werde sie wieder daheim sein, hätten die Männer ihren Eltern gesagt. Daheim ist sie aber bis heute nicht. Und Wyatscheslaw Sawalny, vor dem Krieg Techniker in einem Bowlingklub in Mariupol, geriet an einem russischen Checkpoint direkt in die russische Filtrationsmühle.

Es braucht nicht viel, um die Aufmerksamkeit des russischen Besatzungsregimes in der Ukraine zu erregen: Es reicht, Journalist zu sein, sich in sozialen Medien eindeutig gegen Russlands Politik gestellt oder medizinische Hilfe organisiert zu haben, wie bei Iryna Horobtsowa. Oder es reicht, durch einen russischen Kontrollposten zu fahren und dem Kommandanten des Postens nicht zu Gesicht zu stehen, wie es Wyatscheslaw Sawalny passiert ist.

Hunderte ukrainische Zivilisten wurden im Zuge des russischen Krieges gegen die Ukraine verschleppt – und werden ohne jegliche Anklage oder Begründung festgehalten. Wie viele es tatsächlich sind, weiß niemand so genau.

Tausende Fälle

948 Fälle habe man im Detail identifiziert, so Anastasia Pantielieiewa von der ukrainischen NGO Media Initiative for Human Rights (MIHR). Sie geht aber davon aus, dass die Zahl weit höher ist. Laut dem ukrainischen Ombudsmann Dmytro Lubinez sind es an die 20.000. Seitens des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (ICRC) hält man sich dazu bedeckt. Die Frage der Zivilisten sei "ein Thema, das wir im Rahmen unseres bilateralen und vertraulichen Dialogs mit den Konfliktparteien erörtern, um den Zugang zu sichern und die Achtung der Rechte dieser Personen zu gewährleisten". Diesen Zugang gibt es allerdings so gut wie nie, wie ausgetauschte Zivilisten berichten.

Ein ukrainischer Kriegsgefangener wird Ende Mai dieses Jahres ausgetauscht. Aber auch Zivilisten sitzen noch viele in Haft in Russland.
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Die Spuren dieser Menschen nachzuverfolgen ist extrem schwer. Was Anastasia Pantielieiewa sowie NGOs oder auch staatlichen Stellen bleibt: Sie durchforsten lokale Chatgruppen und Telegram-Kanäle nach Informationsfetzen, kontaktieren Angehörige und Zeugen und fügen diese Bruchstücke zu einem Bild zusammen. Und dann ist da die räumliche Versprengung: MIHR und die NGO Frontline Defenders haben mehr als 30 Gefängnisse und Anstalten in Russland ausgemacht, in denen verschleppte Ukrainer festgehalten werden – vom Westen Russlands bis Irkutsk im Osten.

Anastasia Pantielieiewa ist überzeugt, dass dieses Handeln System hat. Russische Stellen hätten Personen ausgeforscht, zu den jeweiligen Personen recherchiert und Datensätze angelegt – Journalisten, Aktivisten, politisch aktive Bürger, Lokalpolitiker. Einen Einblick in die Pläne Russlands lieferte zuletzt der ehemalige Vizechef des ukrainischen Geheimdienstes SBU, Andrij Koschemjakin: Er sprach davon, dass es der ursprüngliche Plan Russlands gewesen sei, in den Orten Browary und Wassylkiw nahe Kiew Konzentrationslager einzurichten. Dafür gebe es Belege.

Bedrängte Ärzte

Es kam anders – auch in den okkupierten Gebieten. Als die russischen Soldaten gemerkt hätten, dass ihre Informationen nicht aktuell seien und dass sich Widerstand formiere, seien die Besatzungsbehörden dazu übergegangen, etwa Ärzte zu bedrängen, Veteranen der ukrainischen Armee zu identifizieren. Der Grund, wie sie sagt: Der einzige recht frei zugängliche Hinweis auf die Tätigkeit einer Person im ukrainischen Militär findet sich in den medizinischen Aufzeichnungen der Hausärzte. Tausende Menschen sind auf diesem oder anderen Wegen in den Klauen der russischen Besatzer gelandet. Mit zivilen oder juristischen Mitteln ist die administrative Mauer, die Russland um diese Gefangenen errichtet hat, nicht zu überwinden.

Was es bedeutet, als ukrainischer Zivilist ohne Anklage in einem russischen Gefängnis festgehalten zu werden, weiß Wyatscheslaw Sawalny. Er hatte versucht, seine Familie aus Mariupol zu retten, kam aber nicht durch und wurde verschleppt.

Schläge, so erzählt er, seien noch das Harmloseste gewesen. Der Alltag in russischer Haft: Zellendurchsuchungen, Folter, Verhöre, Scheinhinrichtungen, ein Grab musste er ausheben für sich. Vertreter internationaler Organisationen habe er nie zu Gesicht bekommen. Schließlich wurde er gegen russische Gefangene ausgetauscht. (Stefan Schocher, 30.5.2023)