Der äußerste Südrand von Brooklyn an einem lauwarmen Nachmittag im Frühling 2023. Die Stufen, die aus der U-Bahn-Station hinausführen, sind schmutzig, die Luft ist stickig, die Straßen voll und die Musik, die aus den Geschäften dröhnt, nun ja, eigen: Modern Talking, "You’re my heart, you’re my soul". Boney M., "Children of Paradise". Ottawan, "Hands Up". Während die Nachbarschaft akustisch in den frühen Achtzigern steckengeblieben scheint, holt sie den Orientierung suchenden Gast optisch schnell in die Gegenwart zurück

An der Ecke, an der sich die Brighton Beach Avenue und die Coney Island Avenue treffen, steht ein Schild, das sich schon allein wegen seiner relativen Sauberkeit vom Rest der Kulisse abhebt. "Ukrainian Way" steht darauf geschrieben, in weißen Buchstaben auf hellgrünem Grund. Ihren Namen bekam die Kreuzung am 24. August vergangenen Jahres im Rahmen einer Zeremonie, an der zahlreiche New Yorker Stadtpolitiker teilnahmen. Kein zufällig gewähltes Datum: An diesem Tag im Jahr 1991 erklärte sich die Sowjetrepublik Ukraine formal für unabhängig.

Spitzname Little Odessa

Wie der Tag der Einweihung des Ukrainian Way ist auch der Ort, dessen Namen er ziert, symbolisch aufgeladen. In ganz Nordamerika gibt es wahrscheinlich keinen anderen, an dem die Verwerfungen, die der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ausgelöst hat, deutlicher zutage treten als hier. Offiziell trägt das Viertel den Namen Brighton Beach. Über die New Yorker Stadtgrenzen hinaus bekannt ist es aber unter seinem Spitznamen: Little Odessa.

Maxim, den alle nur Max nennen, ist Besitzer des Geschäfts RBC Video.
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"Die meisten Leute hier kamen ursprünglich aus der Ukraine, und die erste Welle bestand vor allem aus Juden. Also ja, historisch gesehen heißt das Viertel so, weil die meisten Leute tatsächlich aus Odessa kamen", erklärt Maxim. Der Hüne mit den langen, pechschwarzen Haaren und dem Trucker-Bart, den sie hier alle nur Max nennen, ist Anfang 40 und führt das RBC Video, die größte russische Buch-, Film- und Musikhandlung von New York. Max hat sie vor ein paar Jahren von seinen Eltern übernommen. Seine Familie stammt aus Kasan, mit 1,3 Millionen die fünftgrößte Stadt der Russischen Föderation. Max wurde dort geboren, bevor sein Vater und seine Mutter in die USA auswanderten.

"Gezwungen, eine Seite zu wählen"

Wenn man Max fragt, ob sich seit dem russischen Angriff auf die gesamte Ukraine etwas im Zusammenleben in Little Odessa verändert hat, legt er zuerst eine Nachdenkpause ein. Dann sagt er: "Wir sind gezwungen, eine Seite zu wählen. Und in einer solchen Situation wählen die Leute die Seite, die ihrem eigenen Familienhintergrund entspricht. Das heißt nicht, dass man zu Russland als Land steht, aber … einen Moment bitte."

Es wird nicht das erste Mal sein, dass Max das Gespräch für die Beratung einer Kundin oder eines Kunden unterbrechen muss. Im RCB Video, das sich über zwei Stockwerke erstreckt, herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Aber während er sich seiner Klientel widmet, scheint Max immer mehr einzufallen, was sich seit dem 24. Februar 2022, als der Kreml den Angriff auf das Nachbarland befahl, noch alles verändert hat:

Verkaufshit "1984"

„Unser größter Verkaufshit seit Kriegsbeginn ist – wie in Russland – George Orwells '1984'. Unsere Kunden wollen wissen, wie Putins Propagandamaschinerie funktioniert, das, 'Ministerium für Wahrheit'-Zeug und so weiter. Wir haben auch viel von Viktor Pelewin verkauft, weil es heute auch um Dinge geht, über die er zum Beispiel in 'Generation P' geschrieben hat. Hier im Viertel … es ist ein seltsamer Moment. Nur ein paar Blocks von hier gab es ein Geschäft namens 'Taste of Russia'. Das gibt es immer noch, aber sie haben das Schild geändert, und jetzt steht dort 'allgemeines internationales Essen' oder so was. Ansonsten verstehen mittlerweile sogar die, die für Putin waren, dass Russland den Krieg nicht gewinnen wird. Unter keinen Umständen, und am Ende will keiner auf Seite der Verlierer stehen.“

Im RBC-Geschäft in Little Odessa ist immer was los.
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Die Vorstellung, dass man sich einmal dafür schämen muss, aus Russland zu kommen, wäre weder Max noch seinen Eltern je in den Sinn gekommen, als sie sich in Amerika ihr neues Leben aufbauten. Die 1970er-Jahre, als Brighton Beach zu Little Odessa wurde, waren eine schwierige Zeit für ganz New York. Auch wenn im Sommer damals wie heute Menschen aus der ganzen Stadt zum Strand strömen, litt das Viertel unter Drogenhandel, Brandstiftungen und allen anderen erdenklichen Formen von Kleinkriminalität. Eine Ära, die der Schriftsteller Hubert Selby in seinem 1978 veröffentlichten und 2000 kongenial von Darren Aronofsky verfilmten Roman "Requiem for a Dream" verewigte.

"Klein-Odessa am Ozean"

Das für New Yorker Verhältnisse überschaubare Viertel, das im Westen von Coney Island, im Osten von Manhattan Beach, im Norden von der Sheepshead Bay und im Süden vom Atlantik begrenzt wird, galt zwar schon seit den 1930ern als Zentrum der russischsprachigen Gemeinschaft. Am Ende waren es aber die über 100.000 Einwanderer aus der Sowjetunion der Breschnew-Ära, die ihm das Label "Klein-Odessa am Ozean" aufdrückten – und für seine Revitalisierung sorgten.

Obwohl sie sich auch in anderen Teilen New Yorks ansiedelten, eröffneten sie zum größten Teil hier und in den Nachbarvierteln ihre Läden, Restaurants, Clubs, Banken, Schulen, Kinderspiel- und Kulturzentren. Der Zusammenbruch der UdSSR 1991 führte dazu, dass weitere tausende Ex-Sowjetbürger, die oft keine Russen waren, aber Russisch sprachen, in Little Odessa landeten. Viele kamen aus dem Kaukasus, vor allem aus Georgien und Aserbaidschan. Im Lauf der Nullerjahre gesellten sich zu ihnen auch zunehmend Bürger aus den zentralasiatischen Ex-Sowjetrepubliken. Aber auch der stete Strom an Menschen, die aus Odessa nach Little Odessa übersiedelten, schwoll in dieser Zeit wieder an.

Igor kam vor mehr als 30 Jahren aus Odessa nach Little Odessa.
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Gefährliches Odessa

Igor ist in Fontanka aufgewachsen, einem Viertel an der Nordostspitze des ukrainischen Schwarzmeerhafens. Vor knapp über 30 Jahren wanderte er nach Brighton Beach aus, weil ihm die Situation in seiner Heimatstadt zu gefährlich wurde. Damals lieferten sich in Odessa noch kriminelle Gangs Schlachten auf offener Straße. Richtig Englisch hat der hagere Mann mit dem kurzen, schlohweißen Haar und der leisen Stimme nie gelernt, was ihm hörbar peinlich ist. Aber das sei eben nie nötig gewesen, sagt Igor, weil er fast sein gesamtes Erwachsenenleben lang in Little Odessa gelebt und gearbeitet habe, "und hier ohnehin alle Russisch reden".

Auch wenn der heutige Bürokaufmann, der sich vorher lang mit Gelegenheitsjobs durchschlagen musste, in den vergangenen drei Jahrzehnten nur zweimal nach Odessa zurückgekehrt ist, hat er den Kontakt nach Hause nie verloren. Und obwohl sein Englisch gebrochen und seine Geburtsstadt 4800 Kilometer weit weg ist, hört man ihm an, wie nah ihm geht, was dort passiert.

"Ich weiß alles, weil meine Verwandten in Odessa leben und ich jeden Tag anrufe. Es ist schrecklich. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Die Menschen müssen miteinander reden. Was jetzt passiert, muss ein Ende haben." Aber wie soll das gehen, angesichts einer offenbar zu allem entschlossenen, faschistischen Diktatur in Moskau? Soll die Ukraine die von Russland gehaltenen Gebiete abgeben? Allen voran die schon seit 2014 besetzte Krim? "Ich war selbst noch nie auf der Krim, aber ich kenne die Situation dort, und ich glaube, dass sie zur Ukraine gehören soll."

Sicher ist sicher

Igor hat noch andere, differenziertere Meinungen über das, was Russland tun soll, aber er bittet um Verständnis, dass er diese nicht "on the record" sagen will. Genauso wenig, wie er seinen Nachnamen nennen will. Eine Bitte, die in Little Odessa auffällig viele Gesprächspartner äußern. Begründung: Auch wenn man den Leuten hier trauen könne, habe sich in Russland, wo viele Verwandte haben, nie etwas geändert. Wie früher lande ein Name heute schnell auf einer Liste in der Lubjanka, dem früheren KGB- und heutigen FSB-Hauptquartier – und auch wenn man in den USA vor Putins Schergen sicher sei, wisse man eben nie.

Wer heute die Brighton Beach Avenue und die sie umgebende Nachbarschaft erkundet, stößt da und dort noch auf weitere immaterielle Ablagerungen, die Russlands imperiale Vergangenheit hinterlassen hat. Unter den Gleisen der U-Bahnlinie Q, die parallel zur Hauptschlagader von Little Odessa verläuft, wacht ein alter Mann vor seinem Laden, unter dessen Schiebermütze junge Augen hervorstechen. Seine Verkaufsfläche erstreckt sich bis auf den Gehsteig und da und dort auch darüber hinaus.

"I stand with Ukraine"

Er heißt Salich, und die Mischung der Waren, die er feilbietet, reicht von alten Wohnzimmeruhren über Teppiche, Modeschmuck, Desinfektionsmittel, Kinderspielzeug und Geschirr bis zu Frauenmode. Abgerundet wird das wilde Sortiment von einem Mannequin, das er mit einem blau-gelben Kleid, einer gelben Schleife und einer Baseballkappe ausgestattet hat. Auf der Kappe steht ein Slogan, der seit dem 24. Februar 2022 zum Schlachtruf der englischsprachigen Gegner der russischen Invasion geworden ist: "I stand with Ukraine".

Salichs Sortiment in Little Odessa.
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"Niemand hat diesen Krieg erwartet. Niemand. Wenn Putin gewinnt, wird die ganze Welt auf dem Kopf stehen. Ich stehe auf der Seite der Ukraine, das ist alles. Slava Ukraini!", sagt Salich. Von den 70 Jahren, in denen er auf der Welt ist, hat er nach eigener Aussage 40 hier in Brooklyn verbracht. Seinen osteuropäischen Akzent hat er trotzdem nie abgelegt. Warum er seine Zelte genau hier aufschlug, hat vor allem mit seiner Familiengeschichte zu tun. "Meine Eltern sind aus Russland geflohen. Irgendwann in den 1920ern, als meine Mutter noch klein war. Meine Familie hat zuerst in Ostturkestan gelebt. Von dort wollten sie weiter in die Türkei, aber meine Tante war schon in den USA. Ich bin 1981 hierhergekommen, meine Eltern ein Jahr früher. So sind wir an dieser verrückten Ecke gelandet. Reich geworden sind wir nicht, aber ich kann mich nicht beschweren."

Ex-Politiker aus der Sowjetunion

Obwohl Brighton Beach seinen Ruf als armes Einwandererviertel nie abgelegt hat – laut der Bezirksverwaltung von Brooklyn lebt ein Drittel der heute rund 27.000 Einwohner unter der Armutsgrenze –, schossen auch hier Immobilienkomplexe aus dem Boden, die auf eine betuchte Kundschaft abzielen. Der bekannteste ist das sogenannte Oceana, eine Luxuswohnanlage, die Anfang der Nullerjahre direkt am Meer errichtet wurde. In ihr leben heute zahlreiche Ex-Politiker und hochrangige Beamte aus allen Teilen des ehemaligen Sowjetreichs.

Im Oceana zu wohnen, davon können Leute wie der Gemischtwarenhändler Salich und seine Kunden, die sich auf dem Gehsteig der Brighton Beach Avenue durch seine Waren wühlen, nur träumen. Was den Nachkommen russischstämmiger Kasachen nicht abhält, manchen einen Rabatt für den guten Zweck zu gewähren. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs schauen laut Salich regelmäßig gebürtige Ukrainer aus der Nachbarschaft bei ihm vorbei, die Sachspenden für die Armee sammeln. „Normalerweise fragen sie mich nach gebrauchten Taschen, Koffern und so weiter. Ich gebe sie ihnen zu einem günstigeren Preis. Eine Hand wäscht die andere, und zwei Hände waschen ein Gesicht.“ (Klaus Stimeder aus Brooklyn, 1.6.2023)