Lauer bemerkt live im Stream, dass heftig an sein Fenster geklopft wird.
Launer / https://www.youtube.com/watch?v=bxNeV4AewPg

"Ich saß alleine auf dem Bett, und das erste Mal seit zig Jahren war mir einfach zum Heulen." Es ist für Marius Lauer schwierig, nach dem Geschehenen wieder zur Normalität überzugehen. Lauer ist selbstständiger E-Sport-Kommentator, Social-Media-Manager und Streamer. Anfang Februar stehen auf einmal Einsatzwägen in seinem Hof, und ein Feuerwehrmann mit Gasmaske klopft vehement an sein Fenster. Weil sein Hund sofort bellend darauf reagiert und das Headset des Streamers Außengeräusche wahrnimmt, hört Lauer die Geräusche und kann den Einsatzkräften die Tür öffnen. Lauer will es sich nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn er es nicht gehört hätte.

Einer der Polizisten, die ebenfalls in Launers Wohnung kommen, erzählt von einem Anruf und der darin gegebenen Information, in Lauers Wohnung würde ein Tauber wegen eines Gasgebrechens bewusstlos am Boden liegen. Hätte Lauer nicht reagiert, hätten die Einsatzkräfte die Tür einschlagen müssen. Ein klassischer Fall von "Swatting", wie es sich leider mittlerweile auf der ganzen Welt in Online-Kreisen etabliert hat. Die Behörden sind meist machtlos.

Kein Einzelfall

Wenige Wochen vor dem Großeinsatz standen bereits 18 Essenslieferanten in dem kleinen Garten vor Lauers Reihenhaus. Über 30 Bestellungen hatte jemand zeitlich abgestimmt abgegeben, um Lauer den Tag zur Hölle und Streamen unmöglich zu machen. Nicht das erste Mal: Vor einem Jahr waren es einmal über 100 Bestellungen gleichzeitig. Den wirtschaftlichen Schaden für die einzelnen Unternehmen – pro Bestellung sollte der Streamer rund 40 bis 50 Euro zahlen – protokollierte die Polizei an diesem Tag, doch die mentale Belastung für den Streamer wurde ignoriert. Es sei "kein Schaden für ihn entstanden", musste sich Lauer anhören. Ein "Freifahrtschein für solche Aktionen", wie das gezeichnete Opfer betont.

Auf die Frage, was er denn gegen diesen Terror machen könne, erntete er nur Achselzucken. Die Anrufe kamen aus Spanien, ließ ihn der Leiter des Einsatzkommandos wissen. Eine Nachverfolgung sei mit den verfügbaren Mitteln nicht möglich.

Zweimal erstattet der Selbstständige Anzeige gegen unbekannt, schließlich verdient er mit dem Streamen und Kommentieren unter anderem seinen Lebensunterhalt. Der gelernte IT-Techniker gibt der Polizei sogar eine Anleitung mit, wie er glaubt, den oder die Täter ausfindig machen zu können, aber seine Worte verhallen ungehört. Lauer fragt, wie oft solche Einsätze passieren. "Täglich", meint die Polizei zu ihm. 

Unter dem juristischen Begriff "Missbrauch von Notzeichen" ist Swatting auch in Österreich ein Begriff, wie Paul Eidenberger, Pressesprecher des Bundesministerium für Inneres, dem STANDARD verrät. Dazu gehört ein Spaßanruf genauso wie das "bewusste Auslösen von teilweise sehr ressourcenintensiven Einsätzen durch falsche Angaben beim Notruf". Das Thema Swatting falle demnach ebenfalls in diese Kategorie, mit dem Unterschied, dass hier auch üble Absichten dahinterstehen können, etwa Disruption des gesellschaftlichen Lebens, Bloßstellung bei einem öffentlichen Auftritt oder Rache. Im Gegensatz zu anderen Formen von Notzeichenmissbrauch sei Swatting in Österreich laut Eidenberger aber derzeit von keiner signifikanten Bedeutung: "Im Laufe des Jahres 2023 wurden bisher acht Swatting-Fälle bei den Landesleitzentralen verzeichnet; Hotspot war Wien mit fünf Fällen."

Rechtlich könne man sich in jedem Fall wehren, sagt der Beamte. Jeder Fall sei allerdings anders, weshalb keine Pauschalaussagen getroffen werden können. Betroffene müssten sich dazu punktuell in das Notzeichengesetz oder das Strafgesetzbuch einlesen (Links am Ende des Artikels). Auslöser solcher Einsätze lässt Eidenberger ausrichten, dass die Polizei derartige Einsätze "dem dafür Verantwortlichen verrechnet". Es handle sich dabei oftmals um mehrere tausend Euro.

Eidenberger appelliert mit Nachdruck, solche Aktivitäten zu unterlassen. "Swatting oder andere ähnlich gelagerte Handlungen sind nicht nur ein Missbrauch dieser Systeme und staatlichen Ressourcen, sondern auch ein Missbrauch der Rechte aller Mitmenschen, die auf diese Notrufsysteme angewiesen sind."

Die Einsätze der Polizei oder Feuerwehr kosten Steuergeld – das gehäufte Auftreten von Swatting schädigt letztlich auch die betroffene Stadt.
IMAGO/Andreas Friedrichs

Swatting-Einsatz für 50 Dollar

Während sich die Popularität dieses Missbrauchs in Österreich derzeit noch in Grenzen hält, sieht es in Deutschland anders aus: Lauer ist dort kein Einzelfall. Tatsächlich wurden im Nachbarland  im Jahr 2022 über 13.000 Fälle gemeldet – ein Anstieg von neun Prozent im Vergleich zu 2021. Erst im Mai erzählte beispielsweise Kilian Heinrich, besser bekannt als reichweitenstarker Streamer Tanzverbot, dass seit 2017 bereits über 50-mal Einsatzkräfte zu seinem Haus geschickt wurden. Einmal wurde bei Heinrich sogar die Tür eingeschlagen. Mittlerweile, erzählte er in einem Interview mit dem "Spiegel", kennt ihn jeder Polizist in seiner Gegend. Seine Nachbarn glauben mittlerweile, er sei "schwer kriminell", weil ständig Einsatzkräfte vor seiner Tür stehen.

Andere prominente Opfer in den letzten Jahren waren etwa Knossi, MontanaBlack, Anni The Duck oder auch Drachenlord. Letzterer musste wegen immer intensiveren Angriffen auf seine Person letztlich seinen Wohnsitz aufgeben. Wie viele Menschen wirklich betroffen sind, ist schwer abzuschätzen. Die Opfer reden ungern darüber, aus Angst vor Trittbrettfahrern – zudem hat auch in Deutschland die Polizei keine eigene Kategorie für das Thema Swatting. 

Ein Abflauen des Trends ist nicht in Sicht. Im April 2023 wurden erstmals in diesem Zusammenhang Einsätze in den USA via KI-Stimmen ausgelöst. Via Telegram konnte man beim User Torswats solche Drohanrufe für 50 Dollar buchen. Für 75 Dollar versprach der Anbieter, Schulschließungen zu bewirken. Die Anrufe wurden offenbar mit einer künstlich generierten Stimme durchgeführt, was deren Nachverfolgung zusätzlich erschwerte. "Motherboard" kam in einer eigens durchgeführten Analyse zu dem Schluss, dass es sich um KI handeln müsse, da die Stimme "über mehrere Anrufe hinweg sehr einheitlich" klang. Nach dem Bericht wurde der Telegram-Account des Nutzers von der Plattform geschlossen. 

Bezüglich der Motivation hinter den Taten gibt es verschiedene Theorien. Dominic Strobel, ebenfalls Streamer, erzählt Anfang diesen Jahres in einem Interview, dass es den Tätern seiner Meinung nach um das Gefühl von Macht gehe, "darum, sich am Leid einer bekannten Person zu ergötzen". In verschiedenen Kommentaren der Polizei wird von "Rache oder Langeweile" seitens der Täter gesprochen. Schwer wird es den Angreifern nicht gemacht, schließlich müssen selbstständige Streamer ihre Kontaktdaten im Impressum angeben.

Angst

"Ich denke immer wieder darüber nach, was gewesen wäre, wenn ich nicht an der Tür oder dem Fenster reagiert hätte," lässt Lauer die Erlebnisse im Interview noch einmal Revue passieren. "Oder was meinem Hund passieren hätte können, wenn er falsch gegenüber den Einsatzkräften reagiert hätte." Den Beamten vor Ort macht er keinen Vorwurf. "Die haben nur ihren Job gemacht." Online geht er trotzdem nicht mehr. Zu häufig hat er noch Albträume und deshalb wenig Lust, noch einmal Opfer zu sein. "Ich traue mich nicht mehr online zu gehen, weil das psychisch wirklich sehr belastend ist." Auf seine zwei Anzeigen in diesem Zusammenhang hat bisher niemand reagiert. (Alexander Amon, 1.6.2023)