Felwine Sarr
Der Senegalese Felwine Sarr (50) gilt als einer der wichtigsten Intellektuellen Afrikas. Seit 2020 unterrichtet er in den USA.
P.Normand/opale.photo/laif

Im November 2018 veröffentlichte der senegalesische Ökonom Felwine Sarr zusammen mit der Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy einen im Auftrag des französischen Präsidenten Emmanuel Macron erstellten Bericht zur Rückgabe von kolonial belasteten afrikanischen Kulturgütern in französischen Museen. Jene begrüßte er damals faktisch unterfüttert als nur eine von vielen nötigen Aktionen der Wiedergutmachung. Im Jahr darauf räumte er in seinem Essay Afrotopia mit festgefahrenen Vorstellungen vom afrikanischen Kontinent auf.

Afrika "hat nicht mehr auf jenen Pfaden zu laufen, die man ihm zuweist, sondern sollte zügig den Weg gehen, den es selbst gewählt hat", stellte er fest. Die vom Westen für Afrika ausgeheckten Entwicklungskonzepte entsprächen nicht dem Kontinent und seiner Bevölkerung. Es brauche andere Wirtschaftsmodelle. Sarr sprach von Selbstbestimmung, Rückbesinnung auf Traditionen, Gemeinschaft und Solidarität, stärkeren regionalen statt globalen Strukturen. Nicht umsonst gilt der 50-Jährige als einer der wichtigsten Intellektuellen Afrikas.

Sehr verschiedene Brüder

Jetzt ist sein erster Roman erschienen. Kürzere Erzählungen hat Sarr, der auch Musik aufnimmt, bereits zuvor veröffentlicht. Angesichts dieser Gemengelage hätte der Band hochspannend werden können. Ist er aber nicht. Auch wenn er teilweise die wirtschaftspolitischen und sozialen Forderungen Sarrs geradezu illustriert, indem der Autor in Die Orte, an denen meine Träume wohnen auf nicht ganz 200 Seiten zwei gegenläufige senegalesische Biografien darlegt. Die Hauptfiguren sind Zwillingsbrüder. Der eine, Bouhel, ist als junger Mann nach Europa gegangen, um in Orléans Semiologie zu studieren. Der andere, Fodé, pflegt im Senegal indes seine kulturellen Wurzeln.

Sarr erzählt in Rückblicken. Vor ein paar Jahren, nämlich "in der Mitte meines Lebenswegs und damit vor dem absteigenden Teil des Bogens", sei er schon einmal in die Heimat zurückgekehrt. Er wollte damals seine "alten Häute abwerfen" und eine "Last" ablegen, "so groß und abgründig wie der Baikalsee". Ein Aufenthalt im Kloster habe ihm dabei geholfen. Was vorgefallen ist, erfahren wir im Lauf des Buches.

Als Grund für die Krise wird sich ein Zwischenfall mit dem Bruder der polnischen Studentin entpuppen, mit der Bouhel in Orléans zusammengekommen war. Als er und Ulga sich zum ersten Mal liebten? Scheint das für ihn schwindelerregender als die Entdeckung des präkolumbianischen Amerika. Er geht in der europäischen Kultur auf und arbeitet wie andere afrikanische Studenten auf einer französischen Kirschplantage, um sich den Lebensunterhalt und ab und zu ein Flugticket nach Hause zu verdienen.

Familienurlaub vs. Beschneidung

Während Ulga ihn mit in den Familienurlaub am Meer nimmt, tritt Fodé nahe der Stadt Mbour in die Fußstapfen des alten Ngof, eines Meisters der Beschneidung und spirituellen sowie lebenspraktischen Führers aller Beschnittenen. Gütig, gläubig und integer ist der eine Säule der Gemeinschaft. Der gelernte Schreiner soll ihm nachfolgen. Seine bei einer Entwicklungshilfe-NGO arbeitende Freundin weiß, Geld verdienen wird Fodé fortan nicht mehr.

Man erfährt nun allerlei über senegalesische Sagen, die Symbolik toter angespülter Fische, Initiationsriten im Wald (drei Monate) oder Beerdigungen (geheime und offizielle Gräber), aber kaum weniger über polnische Osteressensbräuche. Die Geschichte spielt in den Neunzigerjahren des vorigen Jahrhunderts. Sarr hat zu jener Zeit selbst in Orléans studiert. Vielleicht gehen die in Europa spielenden Szenen ihm daher lockerer und lebensnäher von der Hand als jene in Afrika.

Das gibt dem Buch einen bemühten, ausgefransten, teils technischen Eindruck. Als zukunftsfitte Utopie für Afrika, wie Sarr sie zuletzt erdachte, kann man Die Orte, an denen meine Träume wohnen nicht lesen. Dagegen spricht auch viel Schwulst. Nicht bloß wenn Bouhel ahnt, eine "Frau ist ein lichtes Universum voller Geheimnisse", offenbart Sarr sich in Poesiefragen als Geistesgenosse André Hellers. Sätze wie "Wir haben ein instinktives Bedürfnis, das gegenwärtige Tun mit einer erträumten Zukunft zu verknüpfen" mögen faktisch ja stimmen, romanwürdig sind sie bedingt. (Michael Wurmitzer, 31.5.2023)